
Henry ist das gewünschteste Wunschkind. Jahrelang haben wir versucht, Nachwuchs zu bekommen. Als es endlich klappte, konnten wir unser Glück kaum fassen. Die ersten Monate der Schwangerschaft verliefen völlig problem- und komplikationslos. Henry entwickelte sich prächtig, und auch das Ersttrimesterscreening war unauffällig. Als wir am 1. Juni 2015 zum großen Organscreening fuhren – ich war damals in der 21. Schwangerschaftswoche – freuten wir uns auf ein unterhaltsames Baby-TV.

Was sich danach abspielte, verschwimmt in meiner Erinnerung. Es wurden Auffälligkeiten festgestellt, die umfangreiche genetische Tests zur Folge hatten. Die Gefühle, die ich damals hatte, kann ich kaum beschreiben. Es war, als wenn dir plötzlich der Boden unter den Füßen weggezogen wird und du dich im freien Fall befindest. Die schlimmste Zeit meines Lebens begann. Jegliche Vorfreude und Unbeschwertheit wich von jetzt auf gleich, und die pure Angst und Sorge bestimmte unseren Alltag. Endloses Warten auf Testergebnisse und engmaschige Ultraschallkontrollen waren nun an der Tagesordnung. Zum Schluss waren alle Ergebnisse unauffällig, tatsächlich entwickelte sich Henry weiter prächtig. Wir wussten also nur: Es würde etwas Besonders auf uns zukommen. Was genau, konnte uns niemand sagen. Zum Glück gelang es mir, die letzten Wochen der Schwangerschaft zu genießen und mich auf das Baby in meinem Bauch zu freuen.
Nach all den Aufregungen hatte ich mir so sehr eine schöne Geburt gewünscht. Laut den Ärzten sprach nichts dagegen, Henry auf natürlichem Wege auf die Welt zu bringen. Leider lief es nicht so, wie ich mir das vorgestellt hatte. Henry kam fünf Tage vor dem errechneten Geburtstermin per Kaiserschnitt zur Welt.
Henrys erstes Lebensjahr

Der Ärztemarathon begann mit dem Tag seiner Geburt. Statt uns gemütlich zu Hause einzukuscheln und uns kennenzulernen, verbrachten wir viel Zeit in der Uniklinik Köln: Gipsen in der Orthopädie, radiologische Untersuchungen, Humangenetik, Leistenbruch-OP. Über Silvester hatte er eine Atemwegsinfektion, außerdem wurden wir mehrfach wegen schweren bronchialen Infekten stationär aufgenommen. Zweimal pro Woche gingen wir zur Physiotherapie, dazu kam das tägliche Turnen zu Hause. Das alles mit der Hoffnung, dass Henry doch irgendwann sein Köpfchen besser heben kann und vielleicht doch die Meilensteine erreicht, die andere Kinder in dem Alter erreichen. Zu einem Pekip-Kurs, zu dem ich uns angemeldet hatte, bin ich nur einmal hingegangen, weil es schwer für mich war, die Unterschiede der gleichaltrigen Kinder so klar zu sehen. Mein Sorgenkarussell hörte nicht auf, sich zu drehen. Ungefähr ein halbes Jahr nach Henrys Geburt hatten wir einen erneuten Termin zur Abklärung der genetischen Ursache. Es gab eine Vermutung, welches Gen betroffenen sein könnte, man war sich aber nicht sicher. Das ganze Thema Humangenetik ist sehr komplex. Wir Menschen haben unzählige Gene, die noch nicht erforscht sind, aber in einer bestimmten Konstellation zu einem Defekt führen kann.
Wir haben uns gegen die Suche nach der Nadel im Heuhaufen entschieden, so lange es keine Auswirkungen auf die Therapie von Henry hat. Sein Gendefekt hat also bis heute keinen Namen.
Das Jahr der Elternzeit war für mich kein Jahr, auf das ich gerne zurückblicke, im Gegenteil. Ich fühlte mich oft alleine und war froh, als Henry in einen Regelkindergarten kam und ich wieder arbeiten gehen konnte, wieder einen normalen Alltag hatte.
Wie ich lernte zu akzeptieren

Ein Wendepunkt für mich waren die Gespräche mit einer Psychologin, die ich im Rahmen von Henrys Therapien im Frühförderzentrum wahrnehmen durfte. Die Frau stellte die richtigen Fragen, gab mir wichtige Gedankenanstöße. Es war okay, traurig und auch wütend zu sein, dass es uns als Familie verwehrt blieb, das Leben zu führen, das wir uns vorgestellt hatten. Gedanken wie diese zuzulassen hatte nichts damit zu tun, dass ich meinen Sohn nicht unendlich liebte und ihn gegen nichts auf der Welt eintauschen würde. +
Diese Erkenntnis war für mich elementar – ich konnte mich endlich auf das neue Leben einlassen. Auf ein Leben, in dem Henry das Tempo vorgibt. Auf ein Leben, in dem ich mich frei mache von jeglicher Erwartungshaltung an mein Kind. Mit ganz viel Geduld freuen wir uns nun über jeden winzigen Schritt, den Henry macht. An diesen Punkt zu kommen war ein langer Prozess. Zu akzeptieren, dass Henry behindert ist – ja, auch dieses Wort überhaupt aussprechen zu können –, war lange nicht leicht für mich.
Alle Therapien finden im Kindergarten statt

Inzwischen ist Henry fünf Jahre alt, und wir versuchen, ihm ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, so gut es geht. Unser Alltag sieht natürlich anders aus als in anderen Familien. Wir fahren nicht zum Fußballtraining oder Schwimmunterricht. Stattdessen gibt es Physio-, Ergo- und Sprachtherapie. All das findet im Kindergarten statt. Das ist toll und erspart mir die Fahrerei, sodass ich weiter meinem Beruf als Personalreferentin nachgehen kann. Im Kindergarten wird Inklusion groß geschrieben. Henry ist ein Teil des Ganzen, mitten drin und immer dabei. Ganz selbstverständlich. Er besucht die Einrichtung mit Unterstützung einer Assistenzkraft, die ihn nun schon vier Jahre begleitet und eine wichtige Stütze für uns ist.
Henry hat zwei ältere Halbgeschwister, über deren Besuch er sich immer wahnsinnig freut. Die beiden kümmern sich rührend um ihn. Das erfüllt mein Herz mit Glück. Auch meine Eltern sind eine wichtige Stütze für uns. Die Situation hat unsere Familie und zum Glück auch uns als Paar noch enger zusammengeschweißt. Insgesamt haben wir gelernt, die kleinen Dinge im Leben zu schätzen, wir sind demütiger und dankbar für all die tollen Menschen, die uns auf unserem Weg begleiten. Nichts ist für uns selbstverständlich. Vieles relativiert sich und ich rege mich weniger über Sachen auf, die mich früher wütend gemacht haben. Wir nehmen die Probleme, wie sie kommen. Unser Leben läuft anders als geplant. Aber dadurch nicht weniger glücklich.
Diese vier Sätze wollen Eltern mit behinderten Kindern nicht hören
- "Ach, das holt er sicher auf ..."
Es ist ja nett, dass ihr optimistisch seid – in vielen Fällen stimmt dieser Satz aber schlicht nicht. Besser: Stellt etwas heraus, das das Kind tatsächlich schafft: "Super, er/sie kann ja schon ..." - "Toll, wie ihr das macht, ich könnte das nicht.
Doch, könntet ihr! Denn ihr hättet keine Wahl – und würdet ebenfalls alles für euer Kind geben. Deutlich schöner: "Ihr macht das toll, man merkt, was für ein zufriedenes Kind er/sie ist." - "Das ist bestimmt anstrengend!"
Ja, ist es. Genau so wie das Leben mit gesunden vier Kindern, manchmal sogar etwas mehr. Es hilft nicht, daran erinnert zu werden. Bietet doch stattdessen ernst gemeinte Hilfe im Alltag an. - "Das tut mir aber leid."
Auch Mitleid freut die wenigsten. Positive Aussagen wie "Ich freue mich mit euch, dass es euch gut geht" oder "Mal schauen, welche Überraschungen er/sie noch für euch bereit hält" sind angenehmer.
Autorin: Eva Karbaumer
Mehr von Henry und seiner Familie gibt es auf Evas Instagram-Account: Seit ein paar Monaten ist sie als @evieva aktiv – und bezeichnet sich selbst als "Inkluencerin".