Mit Behinderungen leben

Lexiversum: "Ich zeige mein Kind, um anderen Mut zu machen!"

Sie sind eine ganz normale Familie – aber nicht auf den ersten Blick. Vivien (34) und Dominik S. (40) leben mit ihren Söhnen Neo (8) und Lex (4) in Berlin. Lex kam mit mehreren deutlich sichtbaren Behinderungen auf die Welt. Neben einer Lippen-, Kiefer- und Gaumenspalte hat er das Goldenhar Syndrom und eine embryonale Entwicklungsverzögerung namens Pierre-Robin-Sequenz. Mama Vivien teilt auf Instagram Bilder ihres kleinen Jungen, ihr Account "Lexiversum" hat dort 15.000 Abonnenten. Damit kämpft sie für eine Gesellschaft, in der Inklusion mehr als ein Lippenbekenntnis ist.

Neo und Lex sind zwei unterschiedliche Geschwister.© Foto: Parwez Mohabat
Neo und Lex sind zwei unterschiedliche Geschwister.

Hausbesuch bei Familie S.: Der kleine Lex steht schon in der Tür, als wir kommen, sein älterer Bruder Neo turnt im Flur, Mama Vivien versucht ihr Bestes, die zwei wilden Jungs zu bändigen. An den Wänden hängen illustrierte Bilder mit Geburtsgewicht und Größe der beiden Söhne, Gipsabdrücke ihrer Babyfüße stehen auf einer Kommode. An der Tür zu Lex' Zimmer hängt ein Makramee-Reif mit Buchstabenperlen. "Lex, Kämpfer der Herzen" steht da, es ist auch der Name des Instagram-Accounts, den Vivien betreibt und auf dem sie täglich Aufnahmen aus ihrem Familienleben, vor allem von ihrem Sohn Lex zeigt.

Lexiversum: mit einem mehrfach schwerstbehinderten Kind bei Instagram

Was sie von den anderen Mamas im sozialen Netz entscheidet? Das Aussehen ihres Kindes. Lex ist mehrfach schwerstbehindert. Ein Großteil des linken Ohrs und des Gehörgangs fehlt, mit einem Knochenweiterleitungshörgerät kann er mittlerweile hören. Lex linkes Auge ist verformt, durch das Goldenhar-Syndrom ist sein Kinn verschoben. Die Pierre-Robin-Sequenz geht mit einem verkleinerten Unterkiefer sowie einer Verlagerung der Zunge in den Rachen einher, was vor allem nachts dazu führen kann, dass die Atemwege blockiert werden und das Kind droht, zu ersticken. Deswegen hat Lex eine Trachealkanüle, seitdem er sechs Wochen alt ist. Seine Familie und er lernen Gebärdensprache, um sich verständigen zu können.

Die Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte ist nicht alles

Vivien und ihr Mann Dominik erfahren in der 13. Schwangerschaftswoche, dass ihr Sohn mit einer Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte auf die Welt kommen könnte. "Darauf haben wir uns eingestellt und konnten damit auch gut umgehen", erzählt Vivien. Lex kommt sieben Wochen vor dem errechneten Termin per Kaiserschnitt im Berliner Virchow-Klinikum auf die Welt. Nach der Geburt wartet Vivien vergeblich darauf, dass man ihr ihr Neugeborenes auf ihre Brust legt. "Die Ärzte sahen überrascht aus und verschwanden mit ihm. Wir haben die ganze Zeit gewartet, ob wir ihn schreien hören", erinnert sich die zweifache Mutter.

Auf der Intensivstation kämpfen die Ärzte um das Leben des kleinen Buben, der bei der Geburt nur 1430 Gramm wiegt. Er bekommt aufgrund der Rücklagerung seiner Zunge nicht genügend Sauerstoff, muss mehrmals reanimiert werden. Als Vivien und Dominik ihren kleinen Lex endlich sehen dürfen, erschrecken sie. "Er war deformiert, verkabelt und hing an Schläuchen", sagt Vivien. Doch der Schreck verfliegt schnell, als sie ihn halten darf. "Ich konnte ihn auf die Brust nehmen, und dann war alles wie weggepustet. Da war nur noch Liebe für dieses kleine, schräge Wesen", sagt Vivien.

Lex hatte schon zehn Eingriffe

Heute ist die Familie im Leben zu viert angekommen, mit einem Kind, das viel Pflege braucht. Doch der Weg dahin war nicht immer einfach. Lex hat in seinem kurzen Leben schon zehn Eingriffe hinter sich. "Bis vor Kurzem mussten wir die Trachealkanüle stündlich reinigen und die Flüssigkeit absaugen, jetzt hat seine Lunge mehr Volumen und Kraft und er schafft es besser, Schleim abzuhusten", erklärt Mama Vivien. Sie zeigt uns, wie sie den Filter der Kanüle reinigt. Dabei arbeitet sie routiniert und Lex macht brav mit. Nach vier Jahren sind sie ein eingespieltes Team.

Er bekommt über eine Magensonde Nahrung und Getränke. Vivien setzt ihn dazu liebevoll auf die Anrichte in der Küche, zieht mit einer großen Spritze Früchtetee auf und spritzt diesen in die Sonde, die sie "Knopf" nennt. Für Lex Ernährung gibt es einen Stundenplan. Erst seit Kurzem isst er zum Teil auch feste Nahrung. Doch in vielen Dingen unterscheidet sich Lex nicht von anderen Kindern: Am liebsten nascht er Schokolade, blödelt gerne mit seinem älteren Bruder und stampft mit dem Fuß auf den Boden, wenn ihm etwas nicht passt.

Privatsphäre ist Mangelware

Der große Unterschied: Aufgrund des hohen Pflegebedarfs kann Familie S. den Familienalltag nicht alleine bewältigen. Eine Pflegekraft bringt Lex zur Integrationskita, ist anwesend, um ihn zu sondieren, die Trachealkanüle abzusaugen oder im Notfall erste Hilfe zu leisten. Doch auch hier gibt es ein Stück Normalität: Wie alle anderen Kinder spielt Lex mit Bauklötzen, tobt auf dem Spielplatz und macht mit der Gruppe Mittagsschlaf. Besonders abends wird deutlich, dass Lex' Leben mit großen Herausforderungen verbunden ist. Gegen 21:30 Uhr kommt die Nachtschwester, die Eltern machen eine Übergabe und gehen dann zu Bett.

Was sie in ihrem Leben am meisten vermissen, ist, wenig überraschend: Privatsphäre. "Zeit für Zweisamkeit haben wir kaum. Wir waren erst vor zwei Wochen das erste Mal seit vier Jahren zu zweit im Restaurant. Lex hat das erste Mal bei meinen Eltern übernachtet", sagt Vivien.

Auch Flugreisen sind nicht mehr möglich, die Risiken für Lex wären zu groß. Dabei spielte das Reisen in ferne Länder früher bei Vivien und Dominik sogar beruflich eine große Rolle: Sie arbeiteten auf der ganzen Welt als Animateure, lernten sich auch im Job kennen.

Das Leben mit Lex ist eine Bereicherung

Diesen Sommer waren sie in einem Familienhotel im Allgäu. "Aber richtig erholsam ist das nicht, denn der Pflegeaufwand ist sehr hoch, und wenn wir mit der Pflegekraft verreisen wollten, könnten wir uns das nur mithilfe von Spenden leisten", sagt Dominik. Trotzdem ist das Leben mit Lex für ihn und seine Frau eine Bereicherung. Sie sehen vor allem, dass er sie Geduld und Demut gelehrt hat und wie viel Liebe mit Lex in ihr Leben kam. "Für uns wäre alles ganz normal, wenn nicht die anderen Menschen und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen so wären, wie sie sind", sagt Papa Dominik und kabbelt sich mit seinem Sohn, beide lachen ausgelassen.

Inklusion soll gelebt werden!

Dass ihr Kind im Supermarkt angestarrt wird, dass die Familie mit der Krankenkasse über fast jedes neue Pflegemittel verhandeln muss, dass die Welt nicht für Kinder wie Lex gemacht ist – all das stimmt Vivien traurig. Auch deswegen hat sie sich bewusst dafür entschieden, Lex auf Instagram zu zeigen. "Ich will anderen Familien Mut machen und dafür sorgen, dass es mehr Sichtbarkeit für Kinder wie Lex gibt, dass sich etwas ändert und Inklusion endlich gelebt wird", sagt sie.

Natürlich gibt es bei Insta auch Hasskommentare

Die Hassnachrichten, die manchmal kommen ("Wie kann man nur für eine Missgeburt Werbung machen!"), kann sie mittlerweile gut ausblenden, weil Lex' Fans in der Überzahl sind. Eine genetische Erklärung für seine Behinderungen gibt es übrigens nicht. Eine genetische Analyse namens Exomensequenzierung ergab, dass Lex' DNA keinerlei Auffälligkeiten hat. Selbst die Experten fanden keine andere Erklärung als: "Eine Laune der Natur". Wie er sich weiter entwickeln wird, ist unklar. Vivien und Dominik ist es gelungen, mit dieser Ungewissheit zu leben. Wenn Lex keine Milchzähne mehr hat, wird eine Kieferrekonstruktion möglich sein. Ob er dann ohne die Kanüle atmen und sprechen kann, wird sich zeigen. Bis dahin nimmt die Familie ihren Lex so, wie er ist: liebevoll, gewitzt, kämpferisch. "Aufgeben ist keine Option", sagt Vivien S.

Mehr von Lex und seiner Familie

Mama Vivien gewährt auf Instagram und Facebook Einblicke in ihr Familienleben zwischen Alltag und Pflege. Ihr wollt wissen, wie es für Lex weitergeht? Dann taucht ein ins "Lexi:versum":

Lex, Kämpfer des Herzens bei Instagram: instagram.com/lex_kaempfer_des_herzens/

Lex, Kämpfer des Herzens bei Facebook: facebook.com/lexkaempferdesherzens

Autorin: Sarah Borufka

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