
Die Hormone spielen verrückt, Haut und Haare machen, was sie wollen, und die Gefühle fahren Achterbahn. Frischgebackene Mamas erleben im Wochenbett die volle Gefühlspalette – von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt. So ein Chaos im Kopf hatten wir das letzte Mal, wann noch gleich? Richtig: in der Pubertät! Und tatsächlich sind die Abläufe in den Körpern von jungen Müttern und von Teenagern gar nicht so unterschiedlich. Neue Forschungsergebnisse beweisen: Was Mamas nach der Geburt erleben, ist ähnlich drastisch wie die Pubertät ...
Muttertät ist ein Begriff, der sich erst seit Kurzem in Deutschland einbürgert – obwohl der Zustand schon so alt ist wie die Menschheit selbst. Denn bislang konzentrierte sich die Wissenschaft eher auf die Entwicklung des Babys anstatt darauf, was die Mutter nach der Geburt durchmacht. Gemeint ist mit der Muttertät – oder Matreszenz – der Prozess des Mutterwerdens. Im englischsprachigen Raum ist dieses Phänomen schon recht geläufig. Bereits 1973 prägte die Anthropologin Dana Raphael den Begriff, doch erst 2008 wurde er durch die US-Wissenschaftlerinnen Dr. Aurelie Athan und Dr. Alexandra Sacks einem breiten Publikum bekannt.
Die Muttertät ist eine Zeit der Veränderung
Doch was verbirgt sich hinter der Muttertät? Es ist eine Phase, die wohl jede Frau nach einer Geburt erlebt. Hochs und Tiefs wechseln sich rasant ab, jedes Gefühl wird besonders deutlich erlebt. Dazu kommen Zweifel und Ängste, als Mama "nicht gut genug" zu sein. Wie die Pubertät ist die Muttertät eine Übergangszeit. Der Unterschied? "Jeder weiß, dass die Pubertät eine unangenehme Phase ist. Aber von jungen Müttern erwarten die Leute, dass sie glücklich sind, während sie gleichzeitig die Kontrolle darüber verlieren, wie sie aussehen und sich fühlen", so Dr. Alexandra Sacks.
Spätestens nach dem Wochenbett werde von den Frauen oft erwartet, dass sie wieder "funktionieren". Dabei kann die Muttertät bis zu zwei Jahre nach der Geburt andauern. So lange brauchen Körper und Geist, um sich an das neue Leben zu gewöhnen. In dieser Zeit finden tiefgreifende Veränderungen im Körper statt – psychisch, physisch und hormonell –, die in ihrer Intensität vergleichbar mit der Pubertät sind.
Das ist auch eine Erklärung dafür, warum sich Lebenseinstellungen in dieser Zeit oft um 180 Grad wandeln, Freundschaften zerbrechen oder neue berufliche Wege eingeschlagen werden.
Die Erwartungen an Mütter sind unrealistisch
In Zeiten von Social Media wird das Gefühl der Unzulänglichkeit bei vielen Frauen noch verstärkt. Bei Instagram präsentieren sich Mütter schon kurz nach der Geburt wieder frisch und strahlend beim Baby-Yoga und meistern den Übergang in ihr neues Leben scheinbar mühelos. Doch die Realität sieht anders aus.
Dabei ist es wichtig, die Abläufe der Muttertät zu kennen. Denn nur, wenn Frauen ihre eigenen Gefühle verstehen, können sie verständnisvoll mit sich selbst umgehen – und auch ihren Kindern gegenüber empathisch sein, betont Dr. Alexandra Sacks. "Zu viele Frauen schämen sich, offen über ihre komplizierten Erfahrungen zu sprechen, aus Angst, verurteilt zu werden. Diese Art der sozialen Isolation kann sogar Wochenbettdepressionen auslösen", sagt die Psychiaterin.
Wenn Frauen sich verloren fühlen oder ihr Leben vor der Mutterschaft vermissen, hätten sie oft das Gefühl, mit ihnen "stimme irgendwas nicht". Dabei seien diese widerstreitenden Gefühle in Wirklichkeit ganz normal.
Zeit und Geduld sind das A und O
Die Vorstellungen von jungen Müttern werden oft in ein Schwarz-Weiß-Schema gepresst: In der öffentlichen Wahrnehmung sind sie entweder überglücklich – oder sie leiden an postnatalen Depressionen. Dabei gibt es noch so viele Abstufungen zwischen diesen beiden Extremen. "Eine Vielfalt an Emotionen zu durchlaufen, bedeutet nicht unbedingt, dass man eine postpartale Depression hat. Das ist der natürliche Verlauf der Mutterschaft", so Dr. Alexandra Sacks.
Die Neurowissenschaft weiß inzwischen, dass sich im Gehirn von Müttern drastische Umstrukturierungen abspielen. Schon während der Schwangerschaft steigen die Hormone Progesteron und Östrogen sprunghaft an, und auch andere Hormone wie Prolaktin, Relaxin und Cortisol nehmen zu. All diese Hormone beeinflussen den Körper und den psychischen Zustand. Diese Veränderungen im Hormonhaushalt bleiben auch nach der Geburt noch bestehen.
Besonders der Östrogen- und Protesteronspiegel hat drastische Auswirkungen auf unser Befinden. Diese Hormone schärfen einerseits unsere Wahrnehmung und erhöhen unser Verständnis für andere – eine schlaue Vorrichtung der Natur, damit Mamas die Bedürfnisse ihres Babys treffsicher erkennen. Andererseits schüren sie aber auch unser Angstempfinden und sorgen dafür, dass wir unser Neugeborenes vor allen Gefahren beschützen.
Es gibt also eine biologische Erklärung dafür, warum junge Mütter oft sensibler und launischer sind als sonst. Und ja, es ist wissenschaftlich bewiesen, dass sich Frauen nach einer Geburt verändern. Diese Veränderung braucht Zeit, Geduld und Verständnis – von anderen und von uns selbst. Genau wie die Pubertät ist die Muttertät eine einschneidende Entwicklungsphase, die uns viel abverlangt und die nicht von heute auf morgen abgeschlossen ist.
Muttertät und Matreszenz - Defintion
- Den englischen Begriff "Matrescence" prägte die Anthropologin Dana Raphael bereits 1973.
- Muttertät ist die deutschsprachige Entsprechung – ein Kofferwort aus Mutter und Pubertät. Gemeint sind die ambivalenten Gefühle, die Frauen nach der Geburt durchmachen, sowie die Ängste, Selbstzweifel und Schuldgefühle, als Mutter nicht gut genug zu sein.