Tipps vom Erziehungsexperten

"Hilfe, mein 5-Jähriger ist aggressiv!"

Herbert Renz-Polster ist renommierter Kinderarzt, Erziehungsexperte und Buchautor. Er beantwortet den Hilfeschrei einer Mutter, deren Fünfjähriger schlägt, spuckt und tritt.

Wütender Fünfjähriger.© iStock/Juanmonino
Manche Kinder sind auch ihren Eltern gegenüber aggressiv.

Eine Mutter richtet eine verzweifelte Anfrage an Kinderarzt und Erziehungsexperten Herbert Renz-Polster, der mit einer ausführlichen und für uns Eltern sehr aufschlussreichen Antwort aufwartet. Wir dürfen den Text, den wir bei Instagram unter kinder-verstehen.de entdeckt haben, hier veröffentlichen. 

Verzweifelte Mutter: "Mein Sohn schlägt, spuckt und tritt!"

"Mein Sohn ist gerade 5 geworden, meine Tochter wird bald 3. Wir haben schon seit Längerem ein massives Problem mit Grenzüberschreitungen, vor allem abends kommt es immer wieder dazu, dass ein Miteinander kaum möglich ist und jede Bitte zu Schlagen, Spucken, Treten und dem Verletzen unserer Katzen (Treten, die Stufen runterwerfen ...) führt. Leider bringt jedes Bitten und Sprechen nichts, ich habe sogar das Gefühl, es macht das Ganze noch schlimmer. 

Eigentlich pflegen wir einen liebevollen, freundlichen und vor allem respektvollen Umgang miteinander, ich begleite die Kinder immer schon im Familienbett in den Schlaf, wir verhängen keine Strafen und versuchen zu erklären, zu reflektieren und gemeinsame Lösungen zu finden. 

Natürlich verstehe ich, dass der Tag lang war und sich viel aufgestaut hat, trotzdem habe ich das dringende Bedürfnis, die Katzen, aber auch mich selbst vor diesen Übergriffen zu schützen. Ohne mein Kind dabei bloßzustellen, zu drohen oder Strafen zu verhängen."

Rat vom Erziehungsexperten Herbert Renz-Polster

"Ich danke dir für deine Offenheit und wie toll, dass du jetzt den Punkt erreicht hast, nach Hilfe zu fragen! Denn euch allen geht es ja nicht gut, deine Kinder eingeschlossen. Und nein, du musst jetzt nicht drohen oder Strafen verhängen (danke dafür!). Du musst du selber sein. Kein Fragezeichen (Diskutieren, Kommentieren, Betteln, langes Rumtexten), kein Ausrufezeichen (Beschämen, Bestrafen, Drohen), sondern ein Punkt: Ich bin diejenige, die euch Kinder versorgt und schützt. Und auch die Tiere, die bei uns leben. Ich bin die Hüterin unseres Lebens als Familie. WIR GEHEN SO NICHT MITEINANDER UM. 

Und ja, ich weiß: Du hast alles versucht, im besten Willen. Trotzdem will ich das an erste Stelle rücken: Wenn du wirklich an diese Haltung glaubst, wenn du wirklich ganz sicher bist, dass nur dieser Weg ein guter Weg ist, werden deine Kinder sich überhaupt erst wahrnehmen. Und ihr werdet nach und nach den Prozess umkehren, der sich bei euch eingeschliffen hat. Der sich eingeschliffen hat, weil Kinder mit unglaublich wachen Antennen nach Orientierung suchen: Was ist okay, was nicht? Wie geht man hier miteinander um? Diese Orientierung bekommen die Kinder durch die ganz normalen, menschlichen Reaktionen ihres Gegenübers: So ist es gut, so nicht. So passt es zum Familienleben, so nicht. So kann ich es selbst als Mama schaffen – und so nicht. Etwa, weil es über meine Grenzen geht oder mich gar verletzt. Diese Signale speichern die Kinder ab und bauen daraus ihren Kompass. 

Denn: Wie können deine Kinder sich und das ganze Projekt Familie überhaupt wahrnehmen, wenn da keine Klarheit war? Wenn da keine Reaktion eines MENSCHEN war, der sagt, was ist. Wenn da keine Grenze ist, an der deine Kinder dich auch spüren IN DEINEM RECHT: Lass gut sein, so machen wir das nicht. So geht niemand mit mir um. Auch ihr Kinder nicht.

Du wirst fragen: Was genau kann ich jetzt machen? Dieses Fragezeichen ist nicht der Punkt. Der Punkt bist du. Du musst dir klar werden, warum es sich eingeschliffen hat, dass bei euch deine Kinder euer Schiff lenken – und verzweifelt auf der Brücke stehen, weil sie komplett überfordert sind. Das hat nichts damit zu tun, dass ich euch in Achtsamkeit und Respekt begegnen wollt, glaub mir. Achtsamkeit bedeutet auch, den Respekt zu erkennen, den man selber verdient.

Gründe, warum das Familienleben aus dem Ruder läuft

Ohne deine Geschichte zu kennen, will ich ein paar Gründe nennen, warum das Familienleben manchmal seinen "guten Kern" verliert. Manchmal sind es die äußeren Umstände: Die Kinder sind chronisch gestresst, weil es in ihrer Welt nicht gut läuft – ich glaube, das hast du auf dem Schirm (und wie oft kommt ja unsere eigene Überforderung noch dazu). Manchmal sind es auch unsere eigenen Verletzungen in unserer Herkunftsfamilie, aus denen heraus wir "alles anders und alles besser" machen wollen – und mit besser verbinden wir dann vielleicht, dass wir auf ein Nein unseren Kindern gegenüber verzichten. 

Nur – und das weißt du aus anderen Beziehungen auch: Beziehungen leben davon, dass ein Ja dort gesprochen wird, wo es hingehört und ein Nein ebenfalls dort, wo es hingehört. In einem "guten" Ton und ohne Verletzungsabsicht, aber schon verständlich und klar.

Eltern fühlen sich oft schuldig ihren Kindern gegenüber

Ein weiteres Thema, das mir immer wieder begegnet, ist, dass sich Eltern im Grunde vor ihren Kindern schuldig fühlen. Oft beginnt das schon ganz früh. Man will so gerne den Kleinen alles geben, und dann klappt es im echten Leben oft nicht so gut. Und man leidet mit seinem Kind mit, das vielleicht als Säugling oft weint und dann später vielleicht auch oft zornig ist. Man sieht seine Elternaufgabe dann vor allem darin, das Kind zu trösten, dafür zu sorgen, dass alles rasch wieder gut wird, dass "mein Kind glücklich ist und mir zeigt, dass es mich liebt – wo ich ihm doch so vieles nicht geben kann und mir so vieles nicht gelingt". Nur, das ist keine Basis, um Eltern zu sein, im Gegenteil: Es ist der Beginn eines Teufelskreises mit einem faulen Kern: Ich muss alles tun, damit mein Kind mich liebt. Nein – dein Kind liebt dich. Punkt. Und auf dieser Basis sorgst du für ein möglichst gutes Miteinander – für dein Kind, für dich, für deine Familie. Das ist unser Job als Eltern.

Ein konkreter Plan, um die kindlichen Aggressionen abklingen zu lassen

Und auch das ist mir wichtig: Ich schreib das nicht, um dir einen Vorwurf zu machen. Was sich in Familien entwickelt, folgt keiner Planung, das ist einfach da – aus dem besten Willen heraus. Halte dir das zugute und sage dir trotzdem: Jetzt gilt es, umzulernen. 

Trotzdem noch ein Wort zum Konkreten: Ich würde vorschlagen, dass du dich als Erstes an dein großes Kind wendest, er ist groß genug dafür und setzt seinem Geschwisterkind gegenüber den Ton. Du kannst ihm in aller Ruhe in einem konfliktfreien Moment erklären, dass ihr so die Abende nicht verbringen könnt. Du fragst ihn direkt, was ihm Kummer bereitet und was er ändern will. Daraus könnt ihr einen gemeinsamen Plan entwickeln. Und der ist wichtig. Denn mit ihrem schlechten Verhalten zeigen dir deine Kinder ja nicht, dass sie dich nicht brauchen oder lieben. Sie zeigen dir, dass sie in Not sind. Und dagegen hilft Verbundenheit. Echte Verbundenheit, nicht: ich-mache-alles-für-dich-und-lasse-alles-mit-mir-machen.

Du erklärst deinem Kind auch, dass die Katze bei euch ihr Zuhause hat und sie bei euch keine Schläge bekommen wird, so wie auch die Kinder keine bekommen. Und dass du sie schützen wirst. Und du wirst ihm auch erklären, dass du auch dich selbst schützen wirst.

Klarheit schafft Orientierung

Und was, wenn deine Kinder das nicht schaffen? Du signalisierst dann im absoluter Klarheit ein STOPP. Und wenn es bedeutet, dass das Vorlesen jetzt entfällt. Dann ist das so. Keine Lust zu haben, eine Geschichte vorzulesen, wenn dein Kind dich bespuckt, ist keine Strafe, sondern eine direkte, menschliche Reaktion. Und du wirst dir selbst dabei dringend sagen müssen, dass deine abgrenzende Reaktion den Kindern gegenüber in Ordnung geht. 

Du wirst dich nicht auf ein "Jetzt bin ich wieder schuld, dass meine Kinder traurig sind, weil ich die Geschichte nicht fertig gelesen habe" einlassen. Denn du bist nicht schuld. Trotzdem wirst du deinen Kindern nicht grollen, sondern wirst dich mit ihnen versöhnen, spätestens, bevor für euch der Schlaf kommt – das ist für alle Menschen wichtig, wir dürfen keinen Groll mit in unsere Träume nehmen. Kurz, du sorgst dafür, dass ihr zu einer Familie werdet, in der die Kinder wachsen dürfen, weil du sie mit Herz und Klarheit begleitest.

Unser Buch-Tipp

Genau zu dem Thema hat Herbert Renz-Polster ein Buch geschrieben, das Ende Februar 2024 erscheint, aber schon jetzt vorbestellbar ist: "Mit Herz und Klarheit: Wie Erziehung heute gelingt und was eine gute Kindheit ausmacht" (Piper)