Auch bedürfnisorientierte Erziehung braucht Grenzen

Wie Eltern erziehen können, ohne zu verletzen

Ihr wollt wissen, wie ihr achtsam und respektvoll erziehen und trotzdem Grenzen setzen könnt? Und was es bedeutet, eine gute Kindheit zu haben? Ein neues Buch könnte das richtige für euch sein.

Kleines Kind umarmt glückliche Eltern.© Pexels/Vlada Karpovich
Erziehen ohne zu verletzen – wie es funktionieren kann.

Der renommierte Erziehungsexperte und Kinderarzt Herbert Renz-Polster stellt klar: Eine gute Erziehung braucht Konflikte UND Grenzen.

Heute fehlen klare Richtlinien in der Erziehung

Der allgemeine Erziehungstenor geht zurzeit in die Richtung: bedürfnis-, bindungs- und beziehungsorientiert. Doch was das im Detail heißt, wird oft sehr unterschiedlich ausgelegt. Auch der Kinderartz Herbert Renz-Polster stellt in seinem neuen Buch (siehe Buch-Tipp unten) die Frage, ob es überhaupt verständlich sei, was wir mit "Erziehung ohne Unterwerfung" konkret meinen. Und gibt selbst eine Antwort darauf:

Ich glaube, dass wir noch Luft nach oben haben. Und dass wir mit mehr Klarheit den bedürfnisorientierten Ansatz auf eine breitere Spur bringen können. Und zwar auch in der durchschnittlichen Kita um die Ecke. Und auch in der durchschnittlichen Schule.

Was darf man denn überhaupt noch?

Wir dürfen im besten Fall nicht bestrafen, nicht schimpfen, unsere Kinder zu nichts zwingen. Wir sollen auch nicht sagen "Wenn – dann", nicht bis drei zählen, keine Belohnungen versprechen und auch nicht loben. Da kann man es ja nur falsch machen, oder? Sowieso erscheint der ganze Erziehungskosmos inzwischen ziemlich kompliziert. Was wir alles sollen und nicht sollen – das kann einem leicht mal zu viel werden. Zumal unendlich viele Begriffe durch den Elternkosmos geistern, von "artgerecht" und "attachment parenting" über "Babyzeichensprache" bis hin zu "gewaltfreier Kommunikation" und "innerem Kind". Es bestehen viele Widersprüche, viele gegensätzliche Meinungen wabern durcheinander.

Bedürfnisorientiert wird oft missverstanden

Für viele Eltern ist die bedürfnisorientierte Erziehung einfach zu unkonkret und dadurch nicht greifbar. Hier setzt Herbert Renz-Polster mit seinem neuen Buch an. Er betont, dass auch Nein sagen sehr respektvoll sein kann. Um starke Beziehungen entstehen zu lassen, brauche es auch klare Worte. So sagt er:

Tatsächlich heißt bedürfnisorientiert erziehen manchmal auch zu sagen: Das entscheide ich. So nett wie möglich und ohne Vorwurf, aber in dem Bewusstsein, dass die Verantwortung für etwas noch eine Zeit lang bei den Eltern liegen soll. Gute, lebendige Beziehungen sind etwas Wunderbares, aber sie sind weder schmerzfrei, noch emotionslos, noch nebulös. 

Warum Grenzen auch in der bedürfnisorientierten Erziehung wichtig sind

Beim Thema Autorität kommen viele Eltern, die bedürfnisorientiert erziehen wollen, nicht weiter. Doch Grenzen sind ein wesentlicher Bestandteil einer gesunden Erziehung. Sie helfen Kindern, Struktur und Sicherheit in ihrem Leben zu finden. Durch das Setzen von Grenzen lernen sie, Verantwortung zu übernehmen und ihre eigenen Handlungen zu reflektieren. Grenzen geben Kindern auch die Möglichkeit, ihre eigenen Fähigkeiten und Grenzen zu erkunden und zu erweitern. Daher sollten Eltern klare und konsequente Grenzen setzen. So geben sie ihren Kindern Orientierung und helfen ihnen dabei, sich in der Welt zurechtzufinden. Es ist wichtig, dass ihr diese Grenzen respektvoll kommuniziert und auch immer wieder den individuellen Bedürfnissen des Kindes anpasst. Eine ausgewogene Balance zwischen Freiheit und Regeln macht es Kindern möglich, sich gesund zu entwickeln und ihr volles Potenzial zu entfalten. Herbert Renz-Polster bezeichnet das als "Wurzeln und Flügel".

Was ist eigentlich gute Erziehung?

Das ist das Kernthema des Buches. Und hier rät der Kinderarzt dazu, mal eine übergeordnete Perspektive einzunehmen. Und uns selbst zu fragen:

  • Wo kommen unsere Kinder her? 
  • Was suchen sie für ihre Entwicklung?
  • Mit wem haben wir es eigentlich zu tun? 
  • Was ist der grundsätzliche "Auftrag" von Kindern, was ihr tiefster Plan?

Dazu schreibt er in seinem Buch:

Ich finde, wir vergessen diesen Blick manchmal und verlieren vielleicht auch deshalb bisweilen das Maß: Weil wir das Wunder nicht verstehen, wie unsere Kinder sich entwickeln. Dieses Wunder wird uns bei der Suche nach einem guten Weg in der Erziehung leiten können. Bei der Frage nach den Grenzen und bei der nach den Belohnungen.

Konkrete Alltagstipps

1. Dürfen Eltern sich durchsetzen?

Laut Herbert Renz-Polster gibt es auf diese Frage ein klares "Ja" als Antwort. Wenn es in einer Situation nicht gelingt, zu kooperieren, kann es notwendig bzw. sinnvoll für das Kind sein, wenn die Eltern sich durchsetzen. Manchmal fehlen den Kindern in einer Situation Weitblick und/oder Selbstkontrolle. Da dürfen die Eltern dann – respektvoll – eingreifen und zeigen, wo es lang geht.

2. Dürfen Eltern etwas verbieten?

Der Erziehungsexperte arbeitet gerne mit dem Bild des Kompasses. Sind wir als Eltern uns unserer Werte, Einstellungen und Grenzen bewusst, ist unser Kompass also geeicht. Und wir können Richtlinien klar kommunizieren und umsetzen. Das überträgt sich auch auf unsere Kinder. Ist unser innerer Kompass also geeicht, lautet auch hier die Antwort "Ja". Wobei es dann wohl nicht oft vorkommt, dass es nötig wird. Meistens wird es möglich sein, Kompromisse oder Alternativen zu finden. Doch es gebe auch Fälle, in denen ein klares Verbot das Beste für ein Kind sein kann – aber bitte ohne Kränkung, Demütigung oder Zurücksetzung. Ein Beispiel aus dem Buch: Ein 12-Jähriger will sein Handy ständig bei sich haben, um im Klassenchat nichts zu verpassen. Die Eltern haben ausführlich mit ihm darüber gesprochen und ihm ihre Beweggründe erklärt, warum das Handy nachts erst mal bei den Eltern bleiben soll: Damit er nachts das Handy nicht benutzt, was einer zuvor aufgestellten Regel entspricht. Sie bleiben trotz Protests von Seiten des Sohnes bei ihrem Standpunkt und erklären, dass er tagsüber die Nachrichten beantworten könne. Es handelt sich also um ein Verbot, das aber respektvoll transportiert und mit Weitsicht beschlossen wurde.

3. Dürfen Eltern Konsequenzen ankündigen?

Viele Menschen, die ihre Kinder bindungs- und bedürfnisorientiert aufwachsen lassen wollen, würden hier sofort rufen, das ginge ja nicht. Konsequenzen ist doch nur ein anderes Wort für Strafen. Zudem hätten sie nur das Ziel, unsere Kinder dazu zu bewegen, zu tun, was wir möchten. Das sieht der Autor und Kinderarzt etwas anders. Bzw. er findet nicht, dass etwas falsch daran ist, wenn die Kinder auch mal tun, was die Eltern wollen. 

Dass wir es als Familie gut miteinander haben, erwächst manchmal ja tatsächlich daraus, dass unsere Kinder das tun, was wir von ihnen wollen [...]. Dass Konsequenzen allein deshalb schlecht wären, weil sie Zwang auf das Kind ausüben, dem kann ich deshalb nicht folgen.

Herbert Renz-Polster stimmt allerdings zu, dass Konsequenzen oder Strafen nicht willkürlich und manipulativ sein dürfen. Was hingegen völlig in Ordnung sei: Ein Kind will vom Zubettgehen noch spielen, die Eltern sagen, dass es das gern tun könne, danach aber keine Zeit mehr zum Vorlesen bleiben würde.

4. Dürfen Eltern schimpfen?

Dass Kinder grundsätzlich dadurch geschädigt werden, dass ihre Eltern manchmal ihren "Unwillen in zorniger Weise äußern", wie der Duden das Schimpfen definiert, ist [...] nicht anzunehmen.

Schließlich sind auch Wut und Zorn ganz normale, menschliche Gefühle, sie gehören genauso wie angenehme Gefühle nun mal zu unserem Leben dazu. Aber: Für Kinder mache es einen großen Unterschied, ob sich das Schimpfen auf eine konkrete Sache bezieht ("Hier ist ja schon wieder nicht aufgeräumt!") oder ob wir unser Kind durch unser Schimpfen entwerten, kränken oder verletzen ("Du bist wohl zu faul!"). Zweites gilt es zu vermeiden. Aufgepasst: Auch unkontrollierte Ausbrüche vor dem Kind können sehr beängstigend sein.

5. Dürfen Eltern strafen?

Zunächst zur Definition:

Eine Strafe ist die geplante Verhängung oder Zufügung eines fühlbaren Nachteils, um ein wahrgenommenes Fehlverhalten zu sühnen oder zu korrigieren.

Viele Eltern wissen, dass Strafen durchaus wirken. Doch die Frage ist, wie. Natürlich überlegen sich Kinder beim nächsten Mal, ob sie noch mal etwas stehlen, wenn sie beim letzten Mal davor bestraft wurden. Doch stammt dieses Überlegen einzig und allein aus der Angst. Das gibt einem Kind keine Möglichkeit zu wachsen, sich zu entwickeln. 

Denn Wachstum und wirkliches Lernen würden bedeuten, dass ein Kind sich deshalb "gut" verhält, weil sich das "richtig" anfühlt – nicht, weil es Konsequenzen fürchtet.

Eine Kränkung, wie es die meisten Strafen sind, führt nicht zu Einsicht, sondern zu Verhärtung. Und das kann nicht gewollt sein. Kinder lernen durch Strafen, dass sie ohnmächtig sind, dass der Mächtigere gewinnt. Ein Vertrauen und eine gute Beziehung kann daraus nicht erwachsen.

6. Müssen Eltern immer konsequent sein?

An dieser Stelle dazu nur ein vielsagendes Zitat:

Eine Mutter, die durch reifliche Überlegung oder nach einer Aussprache mit dem Kind ihre Meinung ändert, verliert nicht an Autorität, sondern gewinnt Stärke hinzu.

7. Müssen Eltern die Handy- und Computernutzung der Kinder einschränken?

Laut Herbert Renz-Polster gibt es in der Medienlandschaft viele Meinungen, aber leider nur wenig Klarheit, was den richtigen Umgang unserer Kinder mit den sogenannten neuen Medien angeht. Für eine gute Orientierung brauche es drei Dinge:

  1. Wir Eltern sollten uns mit den neuen Medien beschäftigen, um ein gutes Verständnis von ihnen zu entwickeln.
  2. Wir müssen die kindliche Entwicklung verstehen.
  3. Wir sollten uns auf unseren gesunden Menschenverstand verlassen.

Dann werde es uns leichter fallen, uns die Frage selbst zu beantworten, was Kinder brauchen, um keinen Schaden aus der virtuellen Welt davonzutragen. Ohne Zweifel ist eine kompetente Begleitung das A und O. Doch in vielen Familien scheitere es daran, weil viele Eltern die Welt, die ihre Kinder betreten, gar nicht mehr verstehen. Wir sollten uns auch darüber bewusst sein, dass unreflektierter Gebrauch der sogenannten sozialen Netzwerke tief traumatisierend sein kann, was noch immer unterschätzt wird.

Unser Buch-Tipp

Ihr wollt mehr zu dem Thema lesen? In seinem Buch "Mit Herz und Klarheit. Wie Erziehung heute gelingt und was eine gute Kindheit ausmacht!" nimmt Autor Herbert Renz-Polster Eltern an die Hand, wenn sie das Gefühl haben, zwischen bedürfnisorientierter Erziehung und Autorität einen Widerspruch zu empfinden. Mit konkreten Beispielen zeigt er Wege auf, eine vernünftige Kombination aus Mitbestimmung und Führung zu schaffen. Der Autor bezeichnet sich selbst als Schüler und Freund des renommierten Schweizer Kinderarztes und Entwicklungspsychologen Remo Largo (2020 verstorben).