Expertentipps fürs Elternsein

Nora Imlau: "Liebe Eltern, betreibt radikale Selbstfürsorge"

Nora Imlau hat sich als Erziehungsexpertin, Spiegel-Bestseller-Autorin und Social-Media-Aktive einen Namen gemacht. Auch, da sie mit ihren vier Kindern wohl so ziemlich alle Facetten des Elternseins erlebt und durchgemacht hat, zählen viele von uns auf ihre wertvollen Tipps. 

Nora Imlau© Nessi Gassmann
Nora Imlau ist vierfache Mutter und Autorin, Erziehungsexpertin und Speakerin.

Eigentlich wollte sie dieses Jahr kein Buch schreiben. Eltern sein ohne auszubrennen – das ist oft gar nicht so einfach. Wir haben mit Nora Imlau gesprochen, die gerade ein neues Buch geschrieben hat: "Bindung ohne Burnout. Kinder zugewandt begleiten ohne auszubrennen" (siehe Buchtipp weiter unten)

Dein neuer Buchtitel impliziert bereits den aktuellen Zustand: Warum brennen so viele Eltern aus?

Nora Imlau: Kürzlich sprach sogar der Soziologe Klaus Hurrelmann von einer erschöpften Bevölkerung, die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung zeigt. Warum so viele Eltern (und andere Menschen) gerade am Rande der Erschöpfung stehen, liegt zum großen Teil an den diversen äußeren Unsicherheitsfaktoren. Die Inflation macht Druck, wir müssen genug Geld verdienen, um unsere Familie zu ernähren, wir sehen überall Krisen wie Klimawandel und Krieg in der Nähe, die belastenden Coronajahre haben ihre Spuren hinterlassen, viele fühlen sich von der Politik nicht gesehen oder nicht ernst genommen, der Kitaplätzemangel, Bildungskrise, ständig kranke Kinder – all das ist ein "perfect storm" von individuellen, deutschen, aber auch globalen Belastungen.

Welche Rolle spielt unser Perfektionismusanspruch?

Die heutige Elterngeneration ist so informiert wie keine zuvor. Das führt leider auch zu einem enorm hohen Anspruch, bloß keine Erziehungsfehler zu machen, immer auf dem neuesten Stand der Neurobiologie und Entwicklungspsychologie zu sein, das führt zu einer kolossalen Überforderung. Vermeintlich perfekte Rollenvorbilder auf Instagram, die als Projektionsfläche dienen, tun ihr Übriges. Die aktuellen Zahlen des Müttergenesungswerks (von 2021) sagen, dass 24 Prozent der Mütter minderjähriger Kinder akut überlastet seien. Für dieses multifaktorielle Geschehen gibt es kein einfaches Trostpflaster. Auch mein Buch kann das nicht einfach fixen, aber es ist wichtig, das Thema zu benennen und aufzuzeigen, dass es keine individuelle Schuld ist, sondern ein systemisches Problem. Und Eltern, vor allem Müttern, Punkte für eine Burn-out-Prophylaxe an die Hand zu geben (Anm. d. Red.: siehe weiter unten).

Eltern haben ja auch mit vielen Vorurteilen und Vorwürfen zu kämpfen ...

Ja, uns wird oft vorgeworfen, wir seien als Eltern verweichlicht und wir seien selbst schuld, wenn uns unsere Kinder auf den Nasen herumtanzen. Ich sehe das nicht so. Ich sehe eine unglaublich engagierte Elternschaft, die gleichzeitig ihre eigenen Grenzen im Blick hat. Ich sehe uns auch nicht als die Generation der Überbehüter. Vielmehr wurden viele von uns zu wenig behütet. Wir versuchen heute viel mehr zu sehen, was unsere Kinder brauchen.

Setzen sich Eltern heute mehr unter Druck als früher?

Tatsächlich muss man da differenzieren. Früher, sagen wir, in unserer Eltern- und Großelterngeneration, ging es in erster Linie darum, ein Kind körperlich gesund großzuziehen. Es sollte genug zu essen haben, gut gekleidet sein, die Hausaufgaben machen, gehorchen und pünktlich ins Bett gehen. Zwischen 1945 und 1980 gab es einen recht strikten Wertekonsens, die Anforderungen waren greifbarer. Man hat sich auch nicht über Kindererziehung identifiziert. Zwischendurch haben sich viele über die Kirchenzugehörigkeit, die gesellschaftliche Klasse oder eine politische Partei identifiziert. 'Sei der Emotionscoach deines Kindes' startete erst gegen Ende der 70er-Jahre. Erst in den 80ern entstanden unterschiedliche Erziehungsstile, aus denen man wählen konnte, es fand eine Individualisierung statt. Heute ist 'Ich bin eine bindungsorientierte Mutter' ein starkes Identifikationsmerkmal. Die Erwartungen an Eltern sind enorm gewachsen und ebenso der Selbstoptimierungsanspruch. Es ist schwer, das kulturelle Erbe des Mütter-Mythos abzuschaffen, der eine perfekte Mutter zeichnet, die immer duldsam ist und nichts braucht als das Lächeln ihrer Kinder, um sich für all ihre Mühen belohnt zu fühlen. Auch die Angst, eine Rabenmutter zu sein, ist in Deutschland noch sehr präsent.

Wo stößt bindungsorientierte Erziehung an ihre Grenzen?

Hier herrscht ein großes Missverständnis vor. Bindungsorientierte Erziehung ist zwar in aller Munde, wird aber fälschlicherweise oft nicht im Sinne der Bindungsforschung verstanden. In der bindungsorientierten Erziehung muss nicht immer alles seicht sein, wie viele glauben. Tatsächlich kann auch eine enge Führung ihr entsprechen und muss nicht entwürdigend sein. Es gibt Kinder, die klar abgesteckte Grenzen brauchen und gleichzeitig können wir als Eltern liebevoll zugewandt bleiben, auch wenn wir unsere eigenen Grenzen wahren. Solange wir unser Kind nicht beschämen, emotional verletzen, abwerten ist das in Ordnung. Die Instagramversion von Bindungsorientierung, wo wir gewaltfrei mit Kindern kommunizieren und sie das glücklich von selbst mitmachen und wir unserem Kind keinen Frust zumuten, stößt schnell an Grenzen vor allem bei willensstarken Kindern oder bei solchen mit wenig Impulskontrolle.

Woran erkennt man ein sicher gebundenes Kind?

Das werde ich oft gefragt. Dafür gibt es aber keinen Test, den man einfach zu Hause durchführen kann. Viele haben gehört, dass es ein Zeichen für gute Bindung sei, wenn ein Kind bei der Trennung von der Mutter weint, sich aber schnell beruhigen lässt und sich freut, wenn es die Mutter wiedersieht. Dann machen sie sich Sorgen, wenn ihr Kind beim Abschied mal nicht weint, sondern freudestrahlend ins Haus der Oma läuft und sich nicht mal verabschieden will. Daran kann man das aber nicht messen. Die Situation ist eine ganze andere, ob das Kind zu einer fremden oder einer weiteren Bindungsperson geht. Wenn sich unser Kind grundsätzlich geliebt und geborgen fühlt und sich mit all seinen Gefühlen zeigt, können wir davon ausgehen, dass es gut gebunden ist. Wenn es sich traut, uns all seine Gefühle zu zeigen, fühlt es sich bei uns sicher, weil es weiß, es darf so sein, wie es ist. Das ermöglichen wir ihnen, wenn wir grundsätzlich zugewandt und feinfühlig auf unsere Kinder reagieren, so gut wir es können.

Manchmal klappt das aber nicht ...

Hier können sich Eltern entspannen: Das Bindungssystem verzeiht durchaus Fehler. Wir müssen nicht in jedem Moment perfekt auf unser Kind reagieren. In Bindungen sind Schwankungen möglich, auch durch Lebenskrisen wie Krankheit oder Tod im nahen Umfeld. Kinder können trotzdem sicher gebunden sein und wir können die zeitweise geringere Bindung wieder reparieren. 

Wie begleiten wir unsere Kinder angstfrei ins Leben?

Aktuell gibt es objektiv betrachtet viel Unsicherheit in der Gesellschaft. Es liegt an unserer eigenen Bindungserfahrung, unserem Urvertrauen, wie bedrohlich uns äußere Faktoren erscheinen. Sind wir gefestigt und haben grundsätzlich einen positiven Blick aufs Leben, können wir darauf vertrauen, dass wir unseren Kindern Ressourcen mitgeben, sie resilient sein werden und mit Schwierigkeiten umgehen können. Haben wir die Sicherheit nicht, geht es darum, in unserem Inneren Vertrauen aufzubauen, unsere Kinder rüsten zu können und Selbstwirksamkeit zu entwickeln. 

Das Gute ist: sicher gebundene Kinder sind resilienter und besser gerüstet für eine ungewisse Zukunft. Wer überzeugt davon ist, gut genug und liebenswert zu sein, wird nicht aufgeben, sondern immer eine Lösung finden. 

Wichtig ist auch, die Ängste unserer Kinder auszuhalten, ernst zu nehmen und nicht zu entkräften. Eines meiner Kinder im Grundschulalter kam letztens zu mir uns sagte, es habe von einem Mord bei uns in der Nähe gehört und habe nun Angst, selbst ermordet zu werden. Ich habe erst mal zugehört und mich bedankt, dass es mir das erzählt und mir vertraut. Dann habe ich gefragt, wie sich diese Angst anfühlt. – Wie ein schwerer Stein. – Gibt es etwas, was dir helfen würde? Wie können wir dich innerlich stärken, dass diese Angst nicht größer wird. So nehmen wir unser Kind ernst, geben der Angst Raum, statt ihm seine Gefühle abzusprechen. Resilienz entsteht, wenn Eltern auch schwere Gefühle ihres Kindes aushalten. Im zweiten Schritt kann man es einordnen und in Perspektive rücken: Es kommt in den Nachrichten, weil es so selten ist etc.

Nicht immer schafft man es, geduldig und liebevoll zu sein. Was wäre eine Alternative dafür, das Kind auf sein Zimmer zu schicken?

Es kommt sehr auf die Situation an und auf das Wie. Mit Kindern ab einem gewissen Alter kann man durchaus sprechen und ihnen sagen, dass man einen Moment Ruhe braucht, ob es bitte in sein Zimmer gehen könnte. Oder man zieht sich selbst zurück und bittet um Zeit für sich. Wichtig ist, dass wir den Fokus auf uns richten und nicht dem Kind die Schuld geben. Also im Sinne von "Ich brauche jetzt Ruhe", statt "Geh in dein Zimmer und komm erst wieder raus, wenn du dich beruhigt hast". Damit vermittelt man dem Kind, dass es nicht richtig ist, wie es ist, das sollte man vermeiden. Auch wenn ich dafür angefeindet werde: Manchmal sind auch Medien die Lösung. Wenn ein kleineres Kind nicht alleine in einem Raum sein möchte und vielleicht sogar panisch wird, die Mutter aber alleine mit ihm ist und dringend eine Pause braucht, kann sich auch jeder mit Kopfhörern an sein Tablet setzen. Dann ist man zwar zusammen und lässt das Kind nicht allein, macht aber jeder was für sich. 

Welche weiteren Tipps hast du für Eltern, die schon sehr erschöpft sind?

Betreibt radikale Selbstfürsorge, denn ohne sie könnt ihr auch nicht für eure Kinder da sein. Ich nenne das "Wochenbett ohne Wochenbett". Entrümpelt eure To-do-Listen. Macht einen radikalen Cut bei allem, was Kraft kostet und nicht essenziell notwendig ist. Seid sanft und großzügig zu euch selbst. Erlaubt euch, es euch leicht zu machen. Löst euch von Erwartungen. Ihr müsst jetzt keinen Kuchen für die Kitafeier backen. Ihr müsst keine Gäste einladen. Ihr dürft euer Kind auch mal vor dem Fernseher parken, um euch zu erholen. Kauft Tiefkühlessen. Wenn möglich, reduziert eure Arbeitsstunden und schraubt die Kitastunden hoch. Es geht nur darum, dass ihr euch selbst und eure Kinder heil durch die nächsten Monate bringt. Nehmt Hilfe in Anspruch. Gönnt euch Pausen. Und zwar auch, wenn eure Kinder eine Frage haben: Räumt euch Zeit ein, ihr müsst nicht sofort antworten, lasst euch nicht bedrängen. Bleibt verbindlich und sagt ihnen, wann ihr antworten werdet, aber gönnt euch durchzuatmen, bevor ihr vorschnell eine Entscheidung trefft, die ihr nachher bereut. Ein Blick auf den Wochenkalender sollte euch signalisieren, das ist machbar. Und nicht, wie soll ich das nur schaffen. Nehmt euch nach Arbeit und Kita/Schule maximal eine Sache pro Tag vor: Entweder einkaufen oder ein Arzttermin oder eine Verabredung.

Wenn nichts mehr geht

Wenn ihr euch wirklich ausgelaugt fühlt und das Gefühl habt, dass nichts mehr geht, ihr kein Licht mehr seht, ist Folgendes wichtig:

  • Holt euch Hilfe und Unterstützung.
  • Geht zum Hausarzt und lasst euch krank schreiben.
  • Sprecht über die Möglichkeit einer Kur oder anderer Maßnahmen.
  • Ruft die kostenlose (und anonyme) Telefonseelsorge an: 0800/111 0 111

Unser Buch-Tipp

Buch-Cover Bindung ohne Burnout© Verlag

Nora Imlaus Buch "Bindung ohne Burnout. Kinder zugewandt begleiten ohne auszubrennen" (Beltz, 20 Euro) gibt uns zahlreiche alltagstaugliche Tipps an die Hand. Es deckt ein sehr breites Spektrum an Elternthemen wie bindungsorientierte Erziehung und ihre Grenzen, Kraftquellen, Medienzeit, Selbstfürsorge ab und ist einfach ein toller Begleiter durch turbulente Zeiten mit unseren geliebten Kindern. Es erscheint am 7. Februar 2024, ist aber bereits jetzt vorbestellbar.