Erziehung

Psychologe: "Eltern müssen ihren Kindern das Recht geben, sich unglücklich zu fühlen"

Unglück hat ein Imageproblem. Wer will schon der Miesepeter sein, der Jammerlappen? Und die anderen womöglich auch mit runterziehen? Alles super, lautet das Credo. Auch wenn's gar nicht stimmt. Ein Psychologe erklärt, warum Eltern ihren Kindern mit dem ständigen Streben nach Glück schaden.

Unglücklicher Junge umarmt seine Mutter.© iStock/tatyana_tomsickova
Unglück gehört zum Heranwachsen dazu – Eltern müssen es nur zulassen.

Der Zweijährige sitzt am Küchentisch und kritzelt mit Filzstiften auf seinem Malblock. "Schau mal, eine Eisenbahn", ruft er. "Oh ja", lobe ich, und seine Augen funkeln stolz. Dass auf dem Blatt nur wildes Zickzack zu sehen ist und dass er sich im Eifer des Gefechts die Nase grün angemalt hat, ist ihm herzlich egal. Er ist glücklich.

Es sind diese Momente, in denen mir schmerzlich bewusst wird, dass sich diese Fähigkeit, so leichthin vollkommenes Glück zu empfinden, verlieren wird. So sehr ich mir wünsche, dass er wächst, lernt, selbstständig wird und die Welt entdeckt, genauso bedrückt es mich zu wissen, dass dieses ungetrübte Glück der Kleinkindjahre irgendwann nicht mehr so rein sein wird. Dass seine Gefühlswelt komplexer werden wird.

Glück ist das oberste Gebot

Klar: Alle Eltern wünschen sich, dass ihre Kinder glücklich sind. Studien haben ergeben, dass die meisten Glück und Gesundheit als die wichtigsten Ziele für ihr Kind sehen. Glück wird uns schließlich überall als Nonplusultra der Gefühlszustände verkauft. "Glück begegnet uns Erwachsenen überall wie ein Befehl, ob als Etikett auf einer Marmelade, als Wohnungseinrichtung, als Reiseempfehlung, als Schönheitstipp von Influencerinnen oder in unendlich vielen Ratgebern oder Popsongs. Manche sprechen hier von einem Glücksdiktat in unserer Gesellschaft: 'Don’t worry, be happy!' Sei glücklich!", erklärt Claus Koch, Psychologe und Autor ("Das Recht des Kindes, unglücklich zu sein").

Dabei liegt es gar nicht in unserer Natur, ständig nur glücklich zu sein. "Einmal unglücklich zu sein, liegt am Wegesrand der Entwicklung von allen Kindern", erklärt Claus Koch. Eine Freundschaft zerbricht, die Lehrerin hat geschimpft, was man sich gewünscht hat, hat man nicht bekommen. Eltern trennen sich, die geliebte Oma stirbt. All diese Erfahrungen gehören zum Heranwachsen dazu. "Während Erwachsene schnell dabei sind, ihr Unglück in einem größeren Rahmen einzuordnen, vielleicht auch andere dafür verantwortlich zu machen, stellen Kinder ihr Unglück zunächst in keinen größeren Zusammenhang. Sie sind unglücklich und traurig, ohne sofort eine Erklärung dafür zu suchen, und können, wenn sie jünger sind, genauso wie ihr Glück auch ihr Unglück noch gar nicht oder nur schlecht in Worte fassen. Aufgabe der Eltern ist es, dieses Gefühl zu akzeptieren, damit die Kinder sich nicht verstellen müssen. Damit Kinder zulassen können, einmal traurig oder unglücklich zu sein."

Kein Kind kann immer glücklich sein

Erweisen Eltern ihren Kindern mit dem ständigen Streben nach Glück also einen Bärendienst? Hindern wir unsere Kinder daran, die ganze Gefühlspalette kennenzulernen und auch negative Emotionen als etwas ganz Natürliches zu begreifen? "Ausgehend von dem allgegenwärtigen Glücksversprechen in unserer Gesellschaft, dass nur diejenigen mit sich zufrieden sein können, die am besten immer glücklich sind, übertragen Eltern dieses allgegenwärtige Glücksversprechen gerne auch auf ihre Kinder: Dann sollen sie, am besten immerzu, glücklich sein", weiß der Experte. "Aber das kann keine Erziehung leisten! Und genau hier fangen die Probleme an. Denn kein Kind kann ja immer glücklich sein! Und Eltern tragen keine Schuld, wenn ihr Kind einmal unglücklich ist, auch wenn sie sich zu oft dafür verantwortlich fühlen. Kinder haben wie die Erwachsenen das Recht, traurig und unglücklich zu sein, ohne es vor anderen verbergen oder sich dafür schämen zu müssen."

Problematisch wird es, wenn Kinder die Erwartungen ihrer Eltern erfüllen wollen. "Sie sind loyal und wollen ihre Eltern nicht belasten. Wenn sie zum Beispiel aus der Schule kommen und ihre Eltern sie fragen, wie es war, antworten die meisten von ihnen, dass es gut war", weiß Claus Koch. "Sie sagen es auch dann, wenn es gar nicht gut war. Wenn sie vielleicht Streit hatten, die beste Freundin sie nicht sehen wollte, die Lehrerin mit ihm geschimpft hat oder sogar, wenn sie gemobbt wurden." 

Sie sagen, es war 'gut', weil sie spüren, dass ihre Eltern wollen, dass es ihnen gut geht. 

Damit aber werde jedoch jedes Gespräch darüber, unglücklich zu sein, schon im Keim erstickt. "Wenn ein Kind aber spürt, dass es sein Unglück aussprechen darf, ergibt sich die Chance, mit ihm darüber ins Gespräch zu kommen. Es geht darum, dass Kinder zulassen können, auch einmal unglücklich zu sein und dass sie es denen, die ihnen helfen können, mitteilen dürfen."

Durchs Unglücklichsein stärken Kinder ihre Resilienz, werden widerstandsfähiger, und lernen, Krisen zu meistern. "Ein Kind, das immer wieder einmal die Erfahrung macht, in der Lage zu sein, sein Unglücklichsein selbst überwinden zu können, lernt dabei nicht nur, mit Enttäuschungen und Trauer angemessen umzugehen, sondern hat dann auch das Erfolgserlebnis, aus einer unglücklichen Stimmung wieder herausgefunden zu haben", so Claus Koch. "Solche Erlebnisse machen ein Kind stark. Unglück lässt sich überwinden. Manchmal ganz allein, manchmal weil die Situation sich ändert, aber oft auch mit Hilfe anderer, die auf das Kind zugehen und denen es sich öffnen kann."

Jedes Gefühl ist erlaubt

Eltern empfiehlt er, auf die Signale des Kindes zu achten und ein Gespür dafür zu entwickeln, ob sich das Kind traurig, unglücklich, einsam oder unverstanden fühlt und ihm Hilfe anzubieten. "Zunächst ist es immer gut, wenn Eltern um das Wohl ihrer Kinder besorgt sind." Gezieltes Nachfragen eröffnet dann offene Gespräche. Oftmals erzählt das Kind daraufhin von sich und seinem Kummer. 

"Ein Problem entsteht immer dann, wenn Eltern die Gefühle ihrer Kinder immer kontrollieren wollen, oder ihm alle Probleme aus dem Weg räumen", erklärt er. "Solche Eltern erziehen ihre Kinder nicht nur zu Unselbstständigkeit, sondern nehmen ihnen auch die Fähigkeit, mit den Widrigkeiten des Lebens selbstständig umzugehen. Sie ersticken seinen Willen, selbst etwas dagegen zu unternehmen, damit das Unglück aufhört. Denn wenn sie älter werden, Jugendliche oder junge Erwachsene, müssen Kinder gelernt haben, mit der Erfahrung umzugehen, auch einmal unglücklich zu sein. Es gehört ja zum Leben ebenso dazu wie das Glücksgefühl."

Hellhörig sollten Eltern werden, wenn ein Kind über einen längeren Zeitraum hinweg sichtbar darunter leidet, unglücklich zu sein. In diesem Fall ist elterliche Unterstützung dringend gefordert. "Am besten helfen wir ihm dadurch, dass wir nicht gleich direkt mit der Tür ins Haus fallen und es fragen: 'Was ist los mit dir? Bis du unglücklich, bist du traurig?' Oder noch schlimmer: 'Warum bist du unglücklich, du hast doch alles?' Dann fühlen Kinder sich schuldig, unglücklich zu sein und schweigen, weil sie sich nicht mehr trauen, zuzugeben, dass sie gerade unglücklich sind."

Offenen Austausch fördern

Besser ist es, in diesem Fall mit Ich-Botschaften auf das Kind zuzugehen, die folgendermaßen aussehen könnten: "Hör mal, als ich ein Kind war, war ich auch immer wieder einmal unglücklich. Dann ging es mir gar nicht gut. Vielleicht kennst du das ja auch? Ich würde mich sehr freuen, wenn du mir einfach mehr von dir erzählst. Vielleicht kann ich dir helfen?"

Ein solcher Türöffner hilft, damit das Kind Vertrauen schöpfen kann und bereit ist, sich mitzuteilen. "Dies gilt übrigens ebenso für das 'kleine Unglück': eine schlechte Note geschrieben zu haben, von anderen ausgeschlossen zu werden oder das Gefühl, das jüngere Geschwister bekommt immer alle seine Wünsche erfüllt", sagt Claus Koch. 

Eltern müssen ihren Kindern das Recht geben, sich unglücklich zu fühlen, damit sie sich ihnen gegenüber öffnen können und die Erfahrung machen, dass die unglücklichen Phasen in ihrem Leben vorübergehen. 

Und dann wird die Welt wieder freundlich und hell.    

Unser Experte: Claus Koch

Claus Koch studierte Philosophie und Psychologie in Heidelberg und Paris. Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit ist die Situation und Rolle von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Gesellschaft. Er ist verheiratet und hat vier Kinder.