
Nun ist Julia langweilig. Während ihre Mutter mit einer Freundin im Wohnzimmer sitzt, stört die Fünfjährige immer wieder. Ob Mama ihr etwas vorlesen, den Tuschkasten aufbauen, den Roller aus dem Keller und das Puzzle aus dem Schrank holen kann?
Kaum ist ein Wunsch erfüllt, folgt der nächste. Bis Julia um Süßigkeiten und Fernsehgucken bettelt. "Du verwöhnst sie zu sehr. Die wird ja ein echter kleiner Tyrann", sagt die Freundin. Julias Mama verdreht genervt die Augen. Sie ist in der Zwickmühle. Einerseits muss sie ihrer Freundin recht geben. Sie würde gerne von Julia verlangen: "Stör uns mal eine Stunde nicht." Andererseits möchte sie für ihre Tochter da sein. Ist es Verwöhnen im negativen Sinne, wenn sie dem Kind in dieser Situation einen Wunsch nach dem anderen erfüllt? Oder ist es positive Zuwendung, die Kindern guttut?
Mamas Verstand sagt: "Bloß nicht verwöhnen!" Ihre Emotionen sprechen eine andere Sprache: "Ich kann meine Tochter doch nicht einfach wegschicken." Am Ende wird sie sich für einen Kompromiss entscheiden, und der ist gar nicht schlecht: "Lass uns bitte eine Stunde ungestört, und dann machen wir etwas zusammen."
Verwöhntes Baby: Wird daraus ein egoistisches Kind?
Die meisten Eltern kennen solche zwiespältigen Gefühle. 75 Prozent der Deutschen glauben Umfragen zufolge, dass Kinder heute zu Egoisten werden, weil ihre Eltern sie zu sehr verwöhnen. Trotzdem fällt ihnen konsequentes Neinsagen schwer. Im Zeitalter von Helikopter-Erziehung, wonach dem Nachwuchs jedes Bedürfnis sofort erfüllt wird, und Tigermüttern, die schon im Kindergartenalter Lerndisziplin im Hinblick auf die Karriere verlangen, wird es zunehmend schwieriger, das richtige Maß zu finden.
In Erziehungsfragen wird Verwöhnen überwiegend negativ bewertet. Nachdem in den letzten Jahren viele Bücher erschienen sind, in denen Strafen, Noten und Wettbewerbe als förderlich für eine gute Entwicklung dargestellt wurden, tritt der US-amerikanische Autor Alfie Kohn den Gegenbeweis an.
In seinem Buch "Der Mythos des verwöhnten Kindes" zeigt er, warum viele Erziehungsratschläge, die – als Gegenpol zu übermäßigem Verwöhnen – auf Druck, Drill und Disziplin zielen, falsch und wissenschaftlich nicht haltbar sind.
Seine Erkenntnis: Solche Empfehlungen basieren in erster Linie auf Abwertung der Kinder. "Sie haben nur ein Ziel, nämlich die Kleinen durch Gehorsam, Unterordnung und Leistung an die gesellschaftlichen Verhältnisse anzupassen." Viel besser sei ein "sanftes Rebellentum", das Kinder ermutigt, Fragen zu stellen, Gegebenes kritisch zu überprüfen und – wenn es ihnen richtig erscheint – manchmal auch Regeln zu brechen.
Eltern sollten sich dabei kompromissbereit und flexibel zeigen. Sie müssen bereit sein, sich auf Diskussionen einzulassen und auch Lösungen zu akzeptieren, die keinen strengen Prinzipien entsprechen.
Kinder müssen sich auch ohne Erfolg wohlfühlen
Wenn Erwachsene behaupten, ohne Druck würde ihr Kind nichts lernen, unterliegen sie einem Irrtum. Denn langfristig gelingt Lernen nur aus einer inneren Motivation heraus, die wiederum nur selbstbewusste Menschen aufbringen können. "Wer das Selbstwertgefühl eines Kindes daran festmacht, dass es zustande bringt, was die Gesellschaft von ihm erwartet, der irrt", sagt der Autor. Er verweist auf Studien, die belegen, dass Kinder sich auch ohne beeindruckende Leistungen rundum wohl in ihrer Haut fühlen müssen. "Wer seelisch gesund bleiben möchte, muss ein Selbstwertgefühl entwickeln, das bedingungslos ist."
Warum berufen sich Eltern heute trotzdem gerne wieder auf alte Erziehungstraditionen? In Anbetracht der schier endlosen Möglichkeiten in Erziehungsfragen sehnen sich auch Erwachsene offenbar nach klaren Anweisungen. Methoden, die selbst unter Experten umstritten sind, helfen ihnen wenig, verunsichern aber sehr. Gerade wenn Eltern "nur das Beste für ihr Kind wollen" – wer möchte das nicht? –, berufen sie sich auf Zucht und Ordnung, weil es einfacher erscheint. Wo autoritäre Ansagen ausgedient haben, wird das Miteinander schwieriger.
Verwöhnen: für Erwachsene eine Wohltat, für Kinder aber schädlich?
Außerdem hat der Begriff "Verwöhnen" unterschiedliche Bedeutungen. Erwachsene verstehen darunter meistens etwas Positives. Nämlich, dass sie sich etwas Gutes gönnen, das sie sich redlich verdient haben. Aufforderungen wie "Lasst euch verwöhnen" setzen voraus, dass es jemandem zusteht, sich mühsame Dinge abnehmen zu lassen, sich nicht anstrengen zu müssen und das zu genießen.
Warum sollte dieses gute Gefühl für Erwachsene eine Wohltat, für Kinder aber schädlich sein? "Weil Kinder noch lernen müssen", würden Eltern antworten. Theoretisch klingt es recht einfach, sein Kind nicht zu verwöhnen. Doch in der Praxis erfordert es immer wieder neue Entscheidungen.
Was das Beste ist, hängt von jeder einzelnen Situation ab. Ein Baby zum Beispiel ist allein so hilflos, dass es selbstverständlich verwöhnt wird, indem die Eltern es tragen und trösten, wenn es weint. Bei einem dreijährigen Kind werden Mama und Papa im Einzelfall entscheiden, ob sie es auf den Arm nehmen oder nicht. Bei Sechsjährigen ist das nur noch die Ausnahme.
Schlechtes Gewissen und Angst führen zu negativem Verwöhnen
Kompliziert wird die Suche nach dem richtigen Maß, weil nicht nur starre Prinzipien Auseinandersetzungen verhindern. Auch bewusstes Liebsein im Sinne von "dem Kind alles abnehmen" oder "sofort jeden Wunsch erfüllen" tut dem Nachwuchs nicht gut.
Oft ist es das eigene schlechte Gewissen, das zu negativem Verwöhnen führt. "Ich muss so viel arbeiten, bin selten zu Hause, habe wenig Zeit für mein Kind. Da möchte ich in den wenigen gemeinsamen Stunden nicht streiten", lauten typische Elternargumente, die manches Verwöhnen rechtfertigen.
Darf unser Kind allein raus? Kann ihm etwas passieren? Schafft es seinen Schulweg ohne Eltern? Die Angst vor Verbrechen oder Verkehrsunfällen verunsichert Eltern so, dass sie vieles nicht erlauben, was früher selbstverständlich war, und ihr Kind lieber verwöhnen, indem sie es mit dem Auto umherfahren.
Nachgeben unter dem Deckmäntelchen der Liebe
Nicht zuletzt führt auch übertriebener Perfektionismus zu einer Form von Verwöhnung, die Eltern meist gar nicht bemerken. Wer mit dem Anspruch antritt, sein Kind perfekt zu erziehen und ihm jedes Unglück zu ersparen, macht sich etwas vor. Denn oft steckt Bequemlichkeit dahinter.
Wer sofort nachgibt, tut das häufig nur unter dem Deckmäntelchen der Liebe. Meist geschieht es, um Diskussionen zu vermeiden. Ablehnen ist anstrengend, führt zu Streitereien oder schlechter Laune. Eltern sind nicht bereit, sich die Zeit zu nehmen, die angemessen wäre. Sie können es nicht ertragen, den kleinen Liebling frustriert zu sehen und lassen sich von Tränen erpressen. Sie ziehen das Kind selbst an, obwohl es das längst alleine kann, räumen ihm das Zimmer auf, binden dem Sohn oder der Tochter die Schuhe zu, damit es schneller geht und beim Kind nicht zu Frust führt. Damit verhindern sie, dass das Kind voller Stolz sagen darf: "Ich kann das schon alleine."
Bei der Erziehung aufs Bauchgefühl hören
Eltern sollten den Mut haben, auf ihr Bauchgefühl zu hören, statt nach festen Regeln und erniedrigenden Strafen zu rufen. "Das Aufziehen von Kindern ist im Kern – oder zumindest im besten Sinne – ein Prozess der Fürsorge, Unterstützung, des Zuhörens, Anleitens, Abwägens, Lehrens und Aushandelns", sagt Alfie Kohn.
Er gesteht verunsicherten Eltern zu, dass es Tage geben darf, an denen die Zeit und die Geduld dafür fehlen. Doch es reiche schon, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass Zwang oder Gewalt keine Lösung ist. "Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob wir uns einen gelegentlichen Ausrutscher verzeihen oder ob wir gar nicht erst erkennen, dass uns ein Fehler unterlaufen ist."
Es seien nicht die Kinder, die sich zu viel herausnehmen, so Kohns Fazit, sondern Erwachsene und ihre Institutionen. Statt althergebrachte negative Einstellungen gegenüber Kindern zu verfestigen, sollten Erwachsene hinterfragen, ob Glaubenssätze weiterhin wirklich sinnvoll seien, mit denen kleine Menschen nur Selbstwertgefühl entwickeln können, wenn sie Leistungen erbringen und Wettbewerbe gewinnen.
Autorin: Stephanie Albert