Trotzphase

Psychologe: "Wir verziehen Kinder nicht, wenn wir ihren Gefühlen mit Verständnis begegnen"

Glücksgefühle und grenzenlose Liebe – genau diese Emotionen sollten doch durch unsere Adern strömen, wenn wir unsere Kinder sehen. Aber was, wenn sich diese Gefühle nicht so recht einstellen wollen? Ein Psychologe erklärt, wie wir bedingungslose Liebe lernen können.

Fabian Grolimund© Privat
Psychologe Fabian Grolimund weiß, wie wichtig bedingungslose Liebe für Kinder ist.

Es gibt diese Tage: Erst landet die Tomatensoße auf dem hellen Teppich, und im nächsten Wutfall pfeffert der Zweijährige dann auch noch das Spielzeugauto mit Schmackes auf den Fußboden. Im Parkett klafft eine dicke Macke und zack, der Geduldsfaden ist gerissen.

Die Achterbahn der Gefühle kennen wohl alle Eltern: Tausend Mal am Tag betrachten wir unsere Kinder voller Liebe, und im nächsten Moment eskaliert irgendeine banale Situation und wir sind einfach nur noch grenzenlos genervt. Das schlechte Gewissen lässt dann meist nicht lange auf sich warten. Schließlich wollen wir unsere Kinder doch bedingungslos lieben – in jeder Lebenslage. Aber ist das überhaupt möglich?

Bedingungslose Liebe lässt sich lernen

"Bedingungslose Liebe bedeutet, dass wir unser Kind so annehmen können, wie es ist und dass wir es als unsere Aufgabe sehen, unser Kind so zu begleiten, dass es zu dem Menschen werden kann, der es tief im Innern tatsächlich ist", erklärt Fabian Grolimund, Psychologe und Autor ("Ich liebe dich, so wie du bist: Die Gefühle unserer Kinder verstehen, annehmen und liebevoll begleiten"). "Das gelingt niemandem vollständig, aber wir können uns diesem Ideal annähern."

Nahezu alle Eltern sind in bestimmten Situationen von ihren Kindern genervt – wenn sie sich weigern, die Zähne zu putzen, die Jacke nicht aufhängen oder über die Hausaufgaben schimpfen. "Eltern fühlen sich vor allem dann getriggert, wenn sie dem Kind in solchen Momenten negative Absichten unterstellen und glauben, das Kind wolle ihnen damit schaden. Trödelt der Zweijährige morgens, denkt man vielleicht: 'Musst du immer so trödeln! Wegen dir komme ich zu spät zur Arbeit! Machst du das eigentlich absichtlich!? Musst du dich immer querstellen?'"

Der Experte empfiehlt, diese Gedanken zu überprüfen: "Will das Kind wirklich einen Machtkampf ausfechten? Stellt es sich absichtlich quer? Oft merken wir dann: Nein, unser Kind möchte einfach etwas Bestimmtes haben oder tun und ist frustriert, weil das jetzt nicht möglich ist. Und da es noch klein ist, kann es mit diesem Frust und seiner Wut noch nicht konstruktiv umgehen. Es kann sich noch nicht selbst beruhigen, seinen Wunsch loslassen, auf später verschieben oder eine andere Lösung finden. Es braucht mich jetzt."

Eltern müssen Grenzen setzen

Wichtig ist jedoch, bedingungslose Liebe nicht mit dem Irrglauben zu verwechseln, dem Kind jeden Wunsch erfüllen zu müssen. "Bedingungslose Liebe bedeutet in dieser Situation nicht, dass ich dem Kind jetzt ständig nachgebe und mache, was es will, sondern dass ich auch in dieser schwierigen Situation zugewandt bleibe. Ich kann beispielsweise mein kleines, schreiendes Kind auf den Arm nehmen und sagen: 'Ich weiß, dass du gerne noch gespielt hättest. Wir müssen jetzt los. Ja, das ärgert dich sehr, das ist gerade für uns beide eine blöde Situation.'"

Wutanfälle liebevoll begleiten

Fabian Grolimund weiß aus eigener Erfahrung, wie schwer es sein kann, in diesen Situationen die Ruhe zu bewahren. "Ich kann mich an eine Situation im Einkaufzentrum erinnern: Meine zweijährige Tochter wollte unbedingt einen Berliner. Sie hatte aber bereits zuvor Süßigkeiten gegessen, weswegen ich diesen nicht kaufen wollte. Sie warf sich auf den Boden. Ich hob sie auf und sie weinte und rief 'blöder Papa!'. Ich lief mit ihr den Flur entlang, ihren Bruder im Schlepptau und sagte: 'Das macht dich grad sehr wütend, ich weiß'. Für mich dachte ich: 'Ich darf nein sagen und sie darf deswegen wütend sein. Und die ältere Frau, die mich anschaut und den Kopf schüttelt, darf denken, was sie will, die ist jetzt nicht wichtig.' Nach drei Minuten schlief die Kleine dann erschöpft und verschwitzt auf meinem Arm ein. Für mich war das im Nachhinein ein sehr schöner Moment als Vater, weil es mir gelungen war, mit meiner Tochter und ihren Gefühlen in Verbindung zu bleiben. Natürlich gelingt das nicht immer, aber wir müssen keine Angst haben, dass wir unsere Kinder 'verziehen', wenn wir ihren Gefühlen mit Verständnis begegnen.“

Die Befürchtung, dass Eltern kleine Tyrannen heranziehen, wenn sie ihre Kinder mit zu viel Liebe überschütten, hält er für unbegründet. "Kinder entwickeln dann eine Anspruchshaltung, wenn wir als Eltern unserem Kind das Gefühl geben, etwas Besonderes und anderen überlegen zu sein, nicht indem wir es lieben, ernst nehmen und ihm zeigen, wie man sich in andere einfühlt. Oder dann, wenn wir Liebe mit dem Erfüllen von Wünschen verwechseln und jedem Konflikt aus dem Weg gehen."

Dafür ist ein richtiges Verständnis von bedingungsloser Liebe jedoch eine wichtige Voraussetzung. "Es ist aber gerade keine bedingungslose Liebe, wenn wir zum Kind sagen: 'Dann kaufe ich dir das halt, damit du Ruhe gibst!', und dann schmollen und ihm die kalte Schulter zeigen."

Erste-Hilfe-Tipps für genervte Eltern

Gestressten Eltern rät er vor allem eines: durchatmen und innerlich rückwärts zählen. "Meine Großmutter konzentrierte sich, wenn sie sich über eines ihrer sechs Kinder ärgerte, auf ein Detail: Die kleinen Hände, die Füße. Sie meinte: Wenn ich nur auf ein Detail achte, dann wird mir bewusst, wie klein das Kind noch ist und ich ärgere mich weniger."

Und wenn uns das schlechte Gewissen quält, wenn wir doch mal wieder geschimpft haben? "Das darf doch vorkommen", gibt Fabian Grolimund Entwarnung. "Das Schöne an bedingungsloser Liebe ist, dass wir sie auch auf uns selbst ausdehnen und damit Vorbilder für unsere Kinder sein können: 'Ja, ich habe heute geschimpft, ich wurde richtig laut und habe meinem Kind gedroht. Das kann passieren, ich muss nicht perfekt sein, um eine gute Mutter, ein guter Vater zu sein. Und jetzt werde ich mich bei meinem Kind entschuldigen und mir überlegen, was ich beim nächsten Mal anders machen könnte.'"

Denn auch uns als Erwachsenen fällt es hin und wieder schwer, konstruktiv mit unseren Gefühlen umzugehen. "Auch uns reißen die emotionalen Stürme manchmal einfach mit. Bei manchen Erwachsenen, die einen autoritären Erziehungsstil befürworten, fällt auf, dass sie vom Kind mehr fordern als von sich selbst: Das Kind soll seine Gefühle gefälligst im Griff haben, damit sie sich nicht ärgern müssen."

Selbstliebe ist hier das Stichwort. "Mehrere wissenschaftliche Studien zeigen übrigens, dass Menschen, die mit sich selbst mitfühlend umgehen und Fehlern mit einer akzeptierenden Haltung begegnen, auch mehr Verantwortung übernehmen und eher dazulernen können. Ihnen fällt es in aufwühlenden Momenten auch leichter, mit ihren Kindern verbunden zu bleiben."

Zum Buch

Ich liebe dich, so wie du bist Cover© Herder

In ihrem Buch "Ich liebe dich, so wie du bist: Die Gefühle unserer Kinder verstehen, annehmen und liebevoll begleiten" erklären Fabian Grolimund und Stefanie Rietzler, wie es Eltern gelingt, gelassen und einfühlsam in emotional herausfordernden Situationen zu reagieren. Die beiden Psychologen liefern konkrete Alltagsbeispiele und Übungen für stressige Momente.