Diskriminierung und Grusel

Schlimme Kinderlied-Klassiker: Müssen die wirklich (noch) sein?!

Wow! Es gibt so viele Kinderlieder, die eigentlich verboten gehören. In unserer Kindheit haben wir sie wahrscheinlich alle noch fröhlich mitgeträllert – aber muss das heute noch sein? Sollten wir unsere Kids wirklich diese Liedtexte singen und hören lassen?

© iStock/skynesher
"Ist doch ein Klassiker!" Aber: Nicht alle Kinderlieder sind wirklich empfehlenswert.

Als mein Sohn noch ein Baby war und ich zum ersten Mal ein Gute-Nacht-Lied anstimmte, trällerte ich einfach gedankenverloren los. Das erstbeste Lied, das mir in den Kopf kam: "Guten Abend, gute Nacht". Die Zeilen hatte ich irgendwie noch drauf. Aus meiner Kindheit. Über den Text hatte ich sonst gar nicht groß nachgedacht. Aber als ich an der Stelle "Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt …" ankam, geriet ich ins Stocken. Puh, okay, ganz schön krass. Beim nächsten Mal wurde es dann doch "La Le Lu". Beispiele für Kinderlieder, die gar nicht (mehr) gehen, gibt es viele. Doch es sind nicht "nur" solch grausame Zeilen wie in dem besagten Gute-Nacht-Lied. Nein, es kursieren seit Jahrzehnten auch viele diskriminierende Kinderlieder. Schlimme Klischees, rassistische und verletzende Zeilen wurden hübsch verpackt – und als lustiges Kinderlied verbreitet. Hier zeigen wir euch ein paar Beispiele und verraten, warum es so wichtig ist, auf die Auswahl der richtigen Kinderlieder zu setzen.

"Drei Chinesen mit dem Kontrabass"

Dieses Lied habe auch ich als kleiner Stöpsel fröhlich im Kindergarten geträllert – ich erinnere mich noch sehr gut daran. "Drei Chinesen mit dem Kontrabass" ist einer dieser Klassiker. Der Text ist für Minis einfach zu merken, die Melodie eingängig  – und dann noch diese spaßige Vokalverschiebung: "Dra Chanasan" oder "Dri Chinisin". Doch was nicht-asiatische (kleine) Menschen selten verstehen ist, dass das Veralbern der Sprache sehr verletzend sein kann. "Bei den 'Drei Chinesen' wird sich in den Strophen mit den Vokalvertauschungen über die chinesische Sprache lustig gemacht", sagt Musikethnologe Prof. Dr. Nepomuk Riva. "Das Lied entstand vor etwas mehr als 100 Jahren in Berlin, so alt ist es also noch gar nicht. In einer Zeit als durch Kolonialschauen viele Asiaten in die Stadt kamen und illegal blieben", so der Experte.

Auch etwa in anderen Kinderreimen wie etwa "Ching Chang Chong". Im Lied geht es weiter mit den Worten: "Da kam die Polizei: Ja, was ist denn das?" Das scheinbar amüsante Kinderlied handelt also von drei sich unterhaltenden Ausländern, die die Polizei als höchst suspekt einstuft. Wollen wir unseren Kindern so ein diskriminierendes Verhalten vor Augen halten – oder besser an die Ohren?!

"Guten Abend, gute Nacht"

Tolles Schlaflied, wirklich! Wer zur Hölle hat sich damals diesen grausamen Text ausgedacht. So was möchte ich meinem Kind nicht vorsingen. In diesem Gute-Nacht-Lied heißt eine Zeile "Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt". Ich bekomme diese Zeilen nicht über meine Lippen. Es läuft mir dann kalt den Rücken herunter. Eine mögliche Alternative: "Morgen früh, weil Gott will, wirst du wieder geweckt" oder "Morgen früh, morgen früh, wirst du wieder geweckt". Denn was, wenn irgendwann die Frage kommt "Und was ist, wenn er nicht will?" Tja, dann hat man den Salat …

"Fuchs, du hast die Gans gestohlen"

Klar, es ist der Lauf der Dinge. Tiere werden ab und zu erschossen. Aber wie wollen wir das unseren ganz kleinen Kindern denn bloß erklären? Bei meiner Nichte hat das in der Vergangenheit für viele Tränen gesorgt. Und immer, wenn ich auf unserem Kinderlied-Tonie zu diesem Lied gelange, überspringe ich es. Hier heißt es: "Fuchs, du hast die Gans gestohlen, gib sie wieder her, gib sie wieder her. Sonst wird dich der Jäger holen, mit dem Schießgewehr". Mal abgesehen davon, dass Kleinkinder noch nicht verstehen können und wollen, dass man Tiere absichtlich tötet, sendet es doch auch ein falsches Zeichen. Denn das Lied wirft ein schlechtes Licht auf den Fuchs als Tier. Die Jagd auf Füchse ist meistens ja eher unnötig. Und grausam. Natürlich muss man den Kindern irgendwann erklären, wie das Ganze eben im Leben läuft. Wer Fleisch isst, der wird eines Tages erklären müssen, woher das Fleisch kommt. Doch bei einem zweijährigen Kleinkind muss das ja noch nicht sein, oder?

Übrigens: In der Stadt Limburg wurde das Kinderlied aufgrund von protestierenden Veganern aus dem Programm des Glockenspiels im Rathaus verbannt. 

"Hab 'ne Tante aus Marokko"

Auch dieses Kinderlied kommt nicht ohne diskriminierende Formulierungen und Vorurteile aus: "Hab ne Tante aus Marokko (…) und sie kommt auf zwei Kamelen (…) und schießt mit zwei Pistolen". Was bleibt da bei Kindern hängen? Dieses Lied muss doch nicht sein. Und wenn's so viel Spaß macht, dann lieber umdichten. Prof. Dr. Riva weiß: "Kinder, deren Familien aus Bürgerkriegsgebieten in Nordafrika geflohen sind, werden die Tante mit den zwei Pistolen 'piff, paff' nicht als witzig empfinden. Außerdem berichten viele der betroffenen Kinder, dass sie später in der Schule gerade mit diesen Liedern gemobbt werden."

"Alle Kinder lernen lesen"

Der Text dieses Kinderliedes lautet wie folgt: "Alle Kinder lernen lesen, Indianer und Chinesen. Selbst am Nordpol lesen alle Eskimos. Hallo Kinder, jetzt geht’s los!" Auch diese Zeilen vermitteln Kindern ein falsches Bild. Das Kinderlied wird sowohl aus erziehungswissenschaftlicher Sicht als auch von Antirassismus-Initiativen stark kritisiert.

"Hoppe, Hoppe, Reiter"

Ein weiterer Kinderlied-Klassiker, der auch als Kniereiter-Spiel den Kleinsten jede Menge Freude bereitet ist "Hoppe, Hoppe, Reiter". Doch auch hier ist der Text etwas, nun ja, nennen wir es mal "fies" für kleine Lauscheohren: "Fällt er in den Graben, fressen ihn die Raben, fällt er in den Sumpf, dann macht der Reiter plumps". In der nächsten Zeile heißt es: "Fällt er in die Hecken, fressen ihn die Schnecken." Auch meine Kollegin Astrid dichtet hier immer gekonnt um. Zu Recht, wie ich finde! Zum Beispiel in: "Fällt er in den Graben, helfen ihm die Raben" oder "Fällt er in die Hecken, kitzeln ihn die Schnecken". Alles geht, Hauptsache es heißt dann nicht "fressen".

"Aramsamsam"

Heutzutage kennt wohl jedes noch so kleine Kind (und Baby) diesen Song zu dem man sich lustig bewegen kann. Er hat seinen Ursprung in Marokko und stellt in seinen Zeilen die arabische Sprache als ein wirres Kauderwelsch an Lauten dar. "In 'Aramsamsam' singt man ein Pseudo-Arabisch und ahmt zusätzlich die muslimische Gebetshaltung parallel zum Singen nach", spiegelt Experte Prof. Dr. Riva wider. Für nicht-arabischsprachige Menschen wird die arabische Sprache demnach ziemlich abgewertet. Außerdem gehören auch bestimmte Bewegungen zum Kinderlied. Zum Beispiel werden während des Singens von "Arabi! Arabi!" die Arme auf den Boden geworfen. Eine Position, die dem islamischen Gebet ähnelt.

"C-A-F-F-E-E"

Da es sich auch hierbei um einen sehr alten Kanon handelt, entsprechen die Formulierungen den damaligen Vorstellungen der Welt und Völker. In dem Lied "C-A-F-F-E-E" ist nämlich vom sogenannten Muselmann die Rede. Das ist laut Duden eine scherzhafte und veraltete Bezeichnung für Muslime. Auch hier können Eltern und Erzieher bei Bedarf lieber umdichten. Aus "Sei du kein Muselmann, der ihn nicht missen kann" wird dann zum Beispiel "Sei du kein dummer Mann, der ihn nicht missen kann". So schwächt man die negative Verbindung mit dem Fremden zumindest etwas ab.

"Die Affen rasen durch den Wald"

Leider hat es auch dieser bei den Kids äußerst beliebte Song in sich: "Er ist sogar erst nach dem 2. Weltkrieg entstanden, als sich afro-amerikanischer Rock’n’Roll in Deutschland verbreitete und abschätzig als 'Urwaldmusik' bezeichnet wurde", so Prof. Dr. Riva. Die Nachahmung dieses Stils könne man aus der Strophe des Liedes deutlich heraushören. "Bei allen Liedern lässt sich geschichtlich betrachtet eine diskriminierende und rassistische Absicht dahinter erkennen."

Gefahr: Kinder können Wertungen aus Liedern übernehmen

Leider ist es tatsächlich so, dass schon ganz junge Kinder diskriminierende Äußerungen und Handlungsweisen wahrnehmen. Vor allem, wenn sie solche immer und immer wieder in Form von Kinderliedern hören. Denn was Kinder in Liedern hören, in Filmen sehen oder in Büchern lesen, das erklärt ihnen quasi, welche Werte zählen und wie unsere Welt funktioniert. Das Gehörte und Gesehene formt ihre Realität beziehungsweise Normalität. Formulierungen bleiben demnach in Kinderköpfen kleben. Wenn sie nicht bewusst aussortiert werden. Was ist, wenn euer Kind die Person ist, die in den Liedern oder Büchern "anders" ist?

Diskriminierende Kinderlieder werden noch immer gesungen

unglaublich, aber wahr: Diese Lieder werden noch immer in Kitas und Grundschulen gesungen. Oder in Büchern abgedruckt. Den Kleinen bringen sie Spaß, doch sie verstehen ja meist auch noch nicht, was sie da singen: "Diese Lieder sind bei vielen Kindern beliebt. Aber nicht bei denen, über die hier gesungen wird", so der Experte. "Eine solche Musikpraxis widerspricht allen pädagogischen Konzepten der Inklusion und Anti-Diskriminierung. Da entsprechende UN-Konventionen vom deutschen Gesetzgeber ratifiziert wurden, sollten solche Lieder an staatlichen Institutionen wie Kindergärten und Grundschulen nicht mehr gesungen werden."

Schlimme Kinderlieder: Alles Ansichtssache?

Dieses Thema stößt auf geteilte Meinungen: Ja, die Reaktionen zum Thema "Diskriminierung und Rassismus in Kinderliedern" fallen häufig gespalten aus. Die einen wollen diese Klassiker nicht mehr hören, die anderen verteidigen vehement den Ruf des deutschen Liedguts. Wie dem auch sei: An dieser Stelle möchte ich noch mal betonen, dass natürlich alle Eltern selbst entscheiden können, welche Lieder sie ihren Kids vorsingen. Und nicht jedes Kind – vor allem die Kleinsten – hören so genau hin. Aber: Es kommt eben vor. Und dann werden Fragen gestellt. Zum Glück gibt es ja aber Alternativen. Doch beim Thema der diskriminierenden Kinderlieder muss ich gestehen: Die sollten wirklich nicht mehr in Kinderbüchern auftauchen. Weg damit, bitte. Danke. Zum Glück gibt es heute jede Menge neue Kinderlieder. Und die basieren eher auf anderen Werten.

Die deutsche Gesellschaft hat sich verändert

Musikethnologe Prof. Dr. Nepomuk Riva sagt zu diesem brisanten Thema folgendes: "Wechsel im Repertoire von Kinderliedern hat es übrigens immer gegeben, weil die Gesellschaft sich beständig ändert. Wenn man sich ältere Kinderliederbücher anschaut, wird man immer ein Repertoire finden, das wir heute nicht mehr singen, weil es nicht mehr unsere pädagogischen Konzepte widerspiegelt. Gewaltverherrlichende Lieder oder solche, in denen die Prügelstrafe positiv dargestellt wird, empfinden wir berechtigterweise nicht mehr als zeitgemäß. Dass es nun eine Diskussion um rassistische Kinderlieder gibt, liegt vor allem daran, dass sich die deutsche Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Zu meiner Kindheit sangen wir diese Lieder über fremde Menschen und Kulturen, ohne sie jemals zu Gesicht bekommen zu haben. Wir hatten auch gar nicht die Möglichkeit, außereuropäische Kinderlieder kennenzulernen. Heute sitzen aber Kinder mit afrikanischen, asiatischen oder arabischen Eltern in den Kindergruppen. Dementsprechend müssen wir die Lieder, die gesungen werden, so anpassen, dass alle Kinder wertschätzend behandelt werden."

Diese Künstler machen es besser: Kinderlieder, die der heutigen Zeit angemessen sind

Zum Glück geht es ja auch anders: "Es gibt eine Reihe von Künstler*innen, die seit langem Kinderlieder schreiben, in denen es um Gemeinschaft und Unterstützung für Ausgegrenzte geht, nicht nur populäre Personen wie etwa Rolf Zuckowski mit seinem 'Du gehörst zu uns' oder die vielen Lieder aus Produktionen des Berliner Grips-Theaters auf der CD 'Wir werden immer größer'", sagt Prof. Dr. Riva. 

Viel wichtiger sei es ihm zufolge zu erkennen, dass wir heute in einer Gesellschaft mit Migration leben. "Es ist doch überhaupt nicht mehr nötig, Kinderlieder über andere zu singen, sondern wir können Lieder aus anderen Kulturen singen, erklärt der Experte. "Dabei lernen die Kinder lebendige Sprachen kennen, die sie später auch verwenden können. Außerdem erhalten sie eine Idee davon, wie anders Kinderlieder in verschiedenen Regionen der Welt klingen können." Ein gutes Beispiel dafür sei etwa die Publikation mit CD "Wiegenlieder aus aller Welt" (Carus Verlag). 

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