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Eine Autorin hat im hohen Norden die Realität recherchiert. Hier lest ihr ein Kapitel aus ihrem Buch, in dem die Lehrerin erklärt, was in Finnland so viel positiver funktioniert.
- Von wegen es gibt keine Hausaufgaben, Tests und Noten!
- Geld ist nicht immer ein Garant für das bessere Bildungssystem
- LernerInnen statt SchülerInnen
- Wie Kinder am besten lernen
- Vorbild Finnland: Das Schüler-Lehrer-Verhältnis ist entscheidend
- Fehler dürfen sein!
- An Finnlands Schulen ist offene Kommunikation wichtig
- Warum das Schulsystem in Finnland so erfolgreich ist
- Finnische Lehrer arbeiten zusammen
- Krasses Auswahlverfahren: gute Lehrer
- Microteaching ist das Zauberwort
Von wegen es gibt keine Hausaufgaben, Tests und Noten!
An finnischen Schulen gibt es sowohl Hausaufgaben als auch Tests und Noten und ganz sicher Fächer, beileibe nicht jeder Schüler hat einen Laptop, dafür ist gar nicht genug Geld da, LehrerInnen genießen keine absolute Freiheit – und trotzdem ist alles vollkommen anders.
Bevor wir diesen scheinbaren Widerspruch auflösen, erst einmal zwei konkrete Richtigstellungen. Um die erste bat mich eine finnische Lehrerin. Immer wenn sie Gäste aus Deutschland empfange, sagte sie mir, stelle sie fest, dass diese felsenfest davon überzeugt seien, Kinder in Finnland würden keine Arbeiten schreiben und niemals Zensuren bekommen. Dies zu berichtigen sei oft mühsam, weil die BesucherInnen es einfach nicht glauben wollten und sehr enttäuscht seien. Vielleicht, sagte sie mir, wäre es hilfreich, diese irrige Ansicht einmal ganz ausdrücklich geradezurücken. Das soll hiermit geschehen. In Finnland gibt es sowohl Tests als auch Zensuren, in Helsinki, wo sich die meisten Schulen des Landes befinden, sind das in den ersten vier Jahrgängen schriftliche Bewertungen von exzellent bis mäßig und später Zensuren von 1 bis 4.
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Geld ist nicht immer ein Garant für das bessere Bildungssystem
Eine weitere Berichtigung liegt mir am Herzen, da die zugrunde liegende Fehleinschätzung vorführt, was in Bildungsdiskussionen häufig schiefläuft. Viele Menschen gehen reflexhaft davon aus, dass mehr Geld eine Lösung für alle Probleme sei und deshalb zwingend diejenigen Länder die erfolgreichsten Bildungssysteme hätten, die am meisten in Schulen investieren. Tatsächlich gibt Finnland pro Kind weniger für Bildung als die USA aus, und trotzdem ist sein Bildungssystem dem amerikanischen überlegen.
Auch sonst hat man festgestellt, dass es sich mit Geld und Bildung ähnlich wie mit Geld und Glück verhält. Ab einer bestimmten Summe macht mehr Geld einen Menschen weder zufriedener noch ein Bildungssystem besser. Während das Geld in Ländern, die pro Kind zwischen fünf und 16 Jahren weniger als 50.000 US-Dollar aufwenden, einen starken Einfluss auf die Leistungen hat, gibt es in Ländern, die eine höhere Summe ausgeben, keinen Zusammenhang mehr.
LernerInnen statt SchülerInnen
Kinder in finnischen Klassenzimmern sind nicht einfach SchülerInnen. Sie werden als LernerInnen angesehen, das ist ihre Identität, und was so eine lernende Person ausmacht und welche Eigenschaften sie an den Tag legt, bringt man ihnen von Anfang an bei. Nehmen wir Noahs Unterricht (ein Lehrer in Helsinki, die Red.): Als das Jäger-und-Sammler-Quiz ansteht, könnte ihm vor allem daran gelegen sein, dass die Kinder alles gelernt haben, was es über diese Epoche zu wissen gibt. Aber sein Fokus ist ein anderer. Ihm kommt es mehr darauf an, dass sie kritisch denken lernen – und dafür hätte er auch in Kauf genommen, dass sie sich den Lernstoff aufteilen.
Wie Kinder am besten lernen
Will man begreifen, worauf es ankommt, wenn Kinder etwas lernen sollen, kommt man um die große Untersuchung des neuseeländischen Bildungsforschers John Hattie nicht herum. Insgesamt 15 Jahre hat er darauf verwendet, 800 Metastudien zu analysieren, die ihrerseits aus mehr als 50.000 Einzelstudien bestanden und eine Gesamtstichprobe von 250 Millionen SchülerInnen umfassten. Auf diese Weise hat Hattie 138 Faktoren ermittelt, die für den Lernerfolg eines Kindes eine mehr oder weniger wichtige Rolle spielen, und sie ihrer Bedeutung nach gewichtet. Einige Überraschungen sind dabei. Ob ein Kind Hausaufgaben macht oder nicht, hat in der Grundschulzeit kaum Einfluss auf die Leistung (nur leider ist diese Erkenntnis in vielen Schulen bisher nicht angekommen). Ganz weit oben ist dagegen die Lehrer-Schüler-Beziehung angesiedelt.
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Vorbild Finnland: Das Schüler-Lehrer-Verhältnis ist entscheidend
Menschen sind motiviert, falls sie Kompetenz, Autonomie, aber auch Verbundenheit spüren. Gerade hat Hattie eine neue Studie vorgelegt, der 2.100 Metastudien zugrunde lagen und die seine Ergebnisse von damals im Wesentlichen bestätigt. Der Begriff des Lernens klingt zunächst gar nicht so kompliziert, dass eine solche Zerkleinerung notwendig zu sein scheint. Lernen ist kein Fremdwort, und wir alle haben es schon einmal gemacht. Aber im Grunde ist Lernen äußerst schwierig zu fassen, da es etwas beschreibt, das im Verborgenen abläuft.
Fehler dürfen sein!
Will man also, dass Kinder etwas lernen,
muss man ihnen zunächst verständlich machen, was Lernen überhaupt ist. Zu viele Kinder setzen es mit Pauken und Auswendiglernen gleich und nur wenige mit Versuch, Annäherung, Fehlschlag, Spiel und Freude, Übung, Kollaboration und allmählicher Durchdringung. An finnischen Schulen werden Kinder permanent daran erinnert, dass der Lernvorgang keine reine Gedächtnisleistung ist, sondern eine bestimmte Haltung voraussetzt. LernerInnen zeigen kritisches Denken, was unter Umständen bedeutet, dass man weniger auswendig lernt und sich stattdessen mit anderen abspricht und geschickt aufteilt.
An Finnlands Schulen ist offene Kommunikation wichtig
Außerdem sind LernerInnen offen, kommunizieren viel und sind – so hört man in Finnland immer wieder – rohkea. Mit rohkea bezeichnet man einen Menschen, der mutig ist und Risiken eingeht. Im 21. Jahrhundert, in dem wir möglicherweise radikale Lösungen für drängende Probleme benötigen, ist das eine essenzielle Eigenschaft. Man wagt etwas, probiert es aus, bohrt jeden Tag etwas tiefer und traut sich ein bisschen weiter, hebt ab, fliegt los, aber kehrt ohne Scham und Scheu zurück, falls die Reise zu lang oder weit war. Wissen Kinder, dass dieses Verhalten nicht nur akzeptabel, sondern sogar erwünscht ist, verlieren sie die Angst, Fehler zu machen – und das ist deshalb so wichtig, da nichts das Lernen derart blockiert wie die Furcht, danebenzuliegen.
Warum das Schulsystem in Finnland so erfolgreich ist
Was war der entscheidende Hebel, der das finnische Schulsystem nach vorne katapultiert hat? Die Einführung der Gemeinschaftsschulen? Die Schulautonomie? Oder aber die Vernetzung? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, wende ich mich an einen Mann, der ... einer der weltweit führenden Schulforscher ist – und außerdem aus Finnland stammt. Pasi Sahlberg kam 1959 in Oslo zur Welt, wurde erst Lehrer, dann Direktor des Zentrums für Schulentwicklung in Helsinki, ging als Bildungsexperte zur Weltbank nach Washington und lehrt heute an einer australischen Universität.
In einer Unterhaltung per Video frage ich ihn, was wir tun müssten, damit Deutschland ein besseres Bildungssystem bekommt. Er lacht, weil ich dabei wahrscheinlich so klinge, als wolle ich eine genaue Anleitung.
Bildung ist kein Auto, in dem man einfach ein Einzelteil auswechselt, damit es läuft. Bildung ist ein Organismus, der sich insgesamt verändern muss.
So lautet seine Antwort. Doch damit möchte ich mich nicht zufriedengeben. "Aber angenommen, man müsste den finnischen Erfolg auf einen Faktor reduzieren: Welcher wäre das?", frage ich. Pasi Sahlberg überlegt eine Weile. "Wir sind deshalb so gut, weil wir an unsere Lehrer glauben", sagt er schließlich.
Finnische Lehrer arbeiten zusammen
Merkmale des Lehrerberufs in Finnland sind Autonomie sowie die enge Zusammenarbeit, sie beruhen auf derselben Grundlage – und das ist die besondere Art und Weise, auf die Menschen in Finnland diesen Job erlernen.
Als deutsche LehrerInnen im Rahmen einer Studie gefragt wurden, ob sie mit ihren KollegInnen gemeinsam Unterricht vorbereiten oder Projekte planen würden, gaben mehr als 40 Prozent an, darauf keine Lust zu haben. In Finnland hätten sie mit dieser Einstellung nicht einmal einen Studienplatz bekommen. Dort lässt man an den Universitäten nur sehr passende KandidatInnen zu, und da man Kooperation für unverzichtbar hält, führt man die Auswahlgespräche oft mit mehreren BewerberInnen zugleich, damit sie vormachen können, wie sie eine Klasse zusammen unterrichten würden. Auch sonst siebt man so kräftig aus, dass die Bewerbung fürs Lehramtsstudium in Finnland dem Assessment-Center gleicht, das man anderswo durchläuft, wenn man bei einer Unternehmensberatung anheuern will.
Krasses Auswahlverfahren: gute Lehrer
Weil man in Finnland begriffen hat, dass Unterricht nur so gut sein kann wie der Lehrer oder die Lehrerin, die ihn erteilen, berücksichtigt man schon bei Vergabe der Studienplätze lediglich die am besten geeigneten Personen, lässt ihnen eine Ausbildung zuteil werden, die sie zu ausgewiesenen ExpertInnen in Lernpsychologie macht, gewährt ihnen Freiheit, was Zufriedenheit stiftet, erwartet, dass sie sich eng mit KollegInnen abstimmen, schafft die dafür nötigen Arbeitsbedingungen und sorgt außerdem dafür, dass sich alle LehrerInnen im Laufe ihres Berufslebens kontinuierlich weiterbilden und dadurch stets auf dem neuesten pädagogischen Stand sind.
Microteaching ist das Zauberwort
Anderswo ist man längst nicht so weit. So ergab eine Untersuchung, dass in etlichen Ländern ausgerechnet die sinnvollsten Weiterbildungsaktivitäten wie Microteaching nur sehr selten stattfinden. Die universitäre Ausbildung reicht vielerorts ebenfalls nicht aus, da zu wenig Wert auf Lern- und Kognitionspsychologie gelegt wird. In Finnland ist die enge Gemeinschaft zwischen Lehrpersonen einer der Hauptgründe für den hervorragenden Unterricht, den es im ganzen Land gibt, und in einem Punkt haben finnische LehrerInnen deutlich weniger Freiheit als ihre deutschen KollegInnen. Sie müssen ihre gesamte Arbeitszeit in der Schule verbringen. Nicht zuletzt hat ihre ausgeprägte Teamfähigkeit auch damit zu tun. Die Verhältnisse lassen es einfach nicht zu, dass sie zu EinzelkämpferInnen werden.
Dieser Text stammt aus dem Buch "Das krisenfeste Kind. Lernen für die Welt von morgen" von Verena Friederike Hasel, Verlag Klein & Aber.