Schreiben lernen

Spiegelverkehrtes Schreiben bei Grundschülern - völlig normal oder ein Grund zur Sorge?

Spätestens in der ersten Klasse sollen und wollen unsere Kinder schreiben lernen. Doch was, wenn die Buchstaben verkehrt herum gedreht werden? Nachfrage bei einer Sprachwissenschaftlerin.

Ein Mädchen, das schreibt.© Pexels/Andrea Piacquadio
Schreiben lernen ist ein Prozess, bei dem Buchstaben auch mal in die falsche Richtung zeigen ...

Mein Sohn ist diesen Sommer in die Grundschule gekommen. Bereits im letzten Kita-Jahr hat er schon fleißig seinen Namen und diverse Wörter in Großbuchstaben aufgeschrieben. Aber nun geht es, na klar, ans Eingemachte. Jede Woche neue Buchstaben. In Groß-und Kleinschreibung. Schwungübungen noch und nöcher. Doch immer wieder mal mogelt sich da ein Buchstabe unter der, huch!, gespiegelt ist. Dann schaut das P in P-O-L-I-Z-E-I plötzlich nach links statt nach rechts. Oder eine Ziffer, wie die "1" öffnet sich in die falsche Richtung. Einmal an der Achse gespiegelt. Ist das normal? Oder muss ich mir Sorgen machen und es meinem Kind so schnell wie möglich abgewöhnen? Wir haben Prof. Dr. Ursula Bredel vom Institut für deutsche Sprache und Literatur der Universität Hildesheim dazu befragt. Sie hat bereits mehrere Bücher zu diesem Themenfeld veröffentlicht, unter anderem "Wie Kinder lesen und schreiben lernen" (s. Buchtipp unten).

Erst mal: durchatmen! Das Phänomen, dass Kinder vor allem in der ersten Klasse ab und zu Buchstaben und Zahlen spiegelverkehrt schreiben ist weder selten noch unnormal. "Kinder müssen lernen, dass die Direktionalität bei Buchstaben ein bedeutsames Kriterium ist. Alle anderen Gegenstände, die sie bis dahin kennengelernt haben, kann man drehen und wenden, wie man will – sie bleiben, was sie sind", erklärt Prof. Dr. Bredel. Ein Fisch ist ein Fisch, ganz egal, in welche Richtung er schwimmt. Ein F ist allerdings kein F mehr, wenn es sich plötzlich nach links öffnet. Der Grund für das Phänomen der spiegelverkehrt geschriebenen Buchstaben und Zahlen: Manche Schreibanfänger verstehen das Direktionalität-Prinzip noch nicht. Für sie sieht ein F auf den ersten Blick eben doch gleich aus, ob es sich nun nach rechts oder links öffnet. 

Sind manche Buchstaben besonders betroffen?

Besonders häufig sind laut Expertin Kleinbuchstaben von spiegelverkehrtem Schreiben betroffen. Länger anfällig seien solche, bei denen die Koda (das Element, das an die Vertikale angefügt wird) gegen die Schreibrichtung links von der Hasta (die Vertikale) liegt, zum Beispiel: q, d, a, g. Außerdem der Buchstabe j, der gegen die Üblichkeiten der Schreibrichtung nach links gekrümmt ist. Das gilt übrigens auch für Ziffern wie 3 oder 7. "Bei Großbuchstaben kommt das spiegelverkehrte Schreiben schlicht deshalb seltener vor, weil viele von ihnen eine vertikale Spiegelachse haben (M, W, X, Y, H, T, V, U, A, O …), bei den Kleinbuchstaben sind das wesentlich weniger (w, x, o, i)."

Einen Zusammenhang zwischen mangelnder Aufmerksamkeit, Konzentrationsproblemen oder einer Lese-Rechtschreibschwäche gibt es übrigens nicht. Das ergab schon 2012 eine französische Studie des Psychologen Jean-Paul Fischer von der Université de Lorraine in Nancy unter mehreren hundert Vorschulkindern und Erstklässlerinnen. Auch Linkshänder haben keine höhere Tendenz zu spiegelverkehrtem Schreiben, das bestätigt die Sprachexpertin Bredel: "Überhaupt nur (aber eben auch nicht notwendig) dann, wenn Linkshänder gezwungen werden, mit der rechten Hand zu schreiben – das ist ein Modell, das zu Recht nirgends mehr verfolgt wird." 

Was tun bei spiegelverkehrtem Schreiben?

Nun fragen sich betroffene Eltern natürlich: Sollte ich meinem Kind aktiv dabei helfen, wenn es spiegelverkehrt schreibt? Und wenn ja, wie? Oder löst sich das Thema ganz von selbst? Prof. Dr. Bredel rät auf jeden Fall zu Support. Eltern sollten ihre Kinder dabei unterstützen, die Buchstabenformen zielgerecht zu schreiben. Sie sieht die Problematik allerdings auch im Schulsystem: "Am besten wäre es, wenn Kinder von Beginn an eine Schreibschrift (am besten die Schulausgangsschrift) lernen würden – dann käme so etwas nicht vor. Aber so ist es nicht; die Kinder lernen in Deutschland im ersten Schuljahr, Druckbuchstaben zu schreiben. Deshalb entsteht das Problem."

Ganz konkret können Erstklässlern diese Tipps helfen:

  • Die Buchstabenformen sollten systematisch eingeführt werden.
  • Es sollte auf die Abfolge und die Richtung der Schreibung von Hasta (vertikaler Hauptstrich) und Koda (an die Hasta angefügte Elemente) in der entsprechenden Lage im Vierlinienschema der Übungshefte geachtet werden. Dabei kommt es nicht darauf an, die Liniengrenzen genau zu einzuhalten - die Linien dienen als Orientierung für die Buchstabenlage.
  • Die Schreibübungen jeweils mit entsprechendem Wort - und Bildmaterial flankieren. Das veranschaulicht Kindern, um was es bei den Buchstaben wirklich geht.
  • Üben, üben, üben ... auch wenn es nicht immer nur Spaß macht. Dranbleiben lohnt sich! Und wenn es doch Spaß machen soll: Ein weißes Blatt nehmen, die Buchstaben mal größer, mal kleiner, mal schneller, mal langsamer schreiben - und am Ende den gelungensten prämieren.
  • Geht noch mal zusammen mit eurem Kind die Schreibübungen durch und weist es auf Buchstaben hin, die spiegelverkehrt geschrieben wurden, damit es die Unterschiede bemerkt. 

Bis wann sollte sich die "Problematik" erledigt haben?

"Das Problem reduziert sich mit der Erkenntnis, dass es bei Buchstaben (und bei Zahlen) auf die Direktionalität ankommt", versichert die Sprachexpertin. "Eine erste Generalisierung, die die Kinder dann vornehmen, ist, dass Buchstaben nach rechts (in Schreibrichtung) ausgerichtet sind; deshalb können bei linksausgerichteten Buchstaben noch länger Schwierigkeiten bestehen. Außerdem können sich Kinder noch länger bei Buchstaben mit großer Formähnlichkeit vertun (b, d, p, q); dann handelt es sich aber um Verwechslungen und nicht um die Vernachlässigung des Direktionalitätskriteriums." Sollte sich das spiegelverkehrte Schreiben auch nach der zweiten Klasse noch nicht gelegt haben, dann wird mit Sicherheit auch der Klassenlehrer oder die Klassenlehrerin auf euch zukommen, um das weitere Vorgehen – zum Beispiel einen Besuch beim Kinderarzt – zu besprechen.