Anders als erwartet

Mutter gesteht: "So wollte ich mein Kind nicht zur Welt bringen!"

Das Krankenhaus ist ein sicherer Ort für eine Geburt? Viele Frauen, die sich entmündigt, herabgesetzt und traumatisiert fühlen, sehen das anders ...

Mama hält Baby auf dem Arm.© Pexels/Kristina Paukshtite
Viele Mütter erleben Gewalt im Kreißsaal und sind erschüttert.

Für den Chefarzt und die Oberärztin war es geburtsmedizinisch betrachtet eine normale Geburt in einer Klinik, wie sie mir später erklärten. Sie waren sogar froh, dass es so gut ausgegangen ist. Nur ich litt jahrelang unter den Folgen eines Traumas, weil sich mehrere Menschen über meine Grenzen hinweggesetzt haben. Weil andere Leute entschieden haben, was mit mir passiert. Weil ich mich nicht gewehrt habe, als ich Gewalt erlebte.

So lautet ein Auszug der Einleitung aus Lena Högemanns Buch "So wollte ich mein Kind nicht zur Welt bringen! Was Frauen für eine selbstbestimmte Geburt wissen müssen"(siehe Buchtipp unten). Die Autorin ist mit ihrer Erfahrung nicht allein. Mit ihrem Buch möchte sie nun, Jahre nach den Geburten ihrer beiden Töchter, andere Mamis in spe vorbereiten, ihnen eine Stimme geben und aufzeigen, wie man sich auf eine Klinikgeburt vorbereitet, damit sie selbstbestimmt ablaufen kann.

Das System klinische Geburtshilfe

Krankenhäuser müssen wirtschaftlich arbeiten, klar. Doch wenn Frauen unter der Geburt – einem sehr verletzlichen Zeitpunkt ihres Lebens – keine wirkliche Unterstützung und Zuwendung erfahren, über sie verfügt wird, ihre Interessen nicht berücksichtigt werden, dann läuft wohl grundlegend etwas falsch. Leider ist das an der Tagesordnung in deutschen Geburtskliniken. Zu wenig Menschen kümmern sich um zu viele Frauen, oft muss es schnell gehen, da bleibt kein Raum für individuelle Bedürfnisse. 

Dennoch bringen rund 98 Prozent der Frauen ihr Baby in einer Klinik zur Welt. Autorin Lena Högemann ist überzeugt, dass es möglich sein muss, auch in der Klinik selbstbestimmt zu gebären. Ihr Buch hat sie geschrieben, um Wege aufzuzeigen, wie das möglich ist. 

Gewalt in der Geburtshilfe

Es kommen auch andere Mütter zu Wort, die wie die Autorin selbst eine traumatische Geburt erlebt haben. Liest man diese Berichte, kann man kaum glauben, dass so etwas wirklich so stattfindet. Eine Frau wurde stundenlang alleine im Kreißsaal gelassen. Ihr Kind wurde schließlich mit der Saugglocke geholt, für sie fühlte es sich an, als hätte man ihr "das Kind aus dem Körper gerissen". Eine andere Frau fühlte sich vergewaltigt durch den Kaiserschnitt, durch den der Arzt ihr Kind auf die Welt brachte. Leider ist Gewalt in der Geburtshilfe gängige Praxis und kommt viel häufiger vor, als man denken würde. 

Enttäuscht von der Geburt

Wer eine Geburt erlebt, die so ganz anders abläuft als erwartet – und zwar nicht, weil etwas mit dem Kind war, sondern aufgrund von Personalengpässen, respektlosem Verhalten und Maßnahmen, über die man nicht mitentscheidet, wird natürlicherweise von der Geburt enttäuscht sein. Oft bedeutet das ein Trauma, das lange braucht, um es zu heilen. Genau hier setzt Lena Högemann mit ihrem Buch an. Sie möchte zeigen, "wie eine Geburtshilfe aussieht, die die Frau in den Mittelpunkt stellt".

Selbstbestimmte Geburt

Wie also kann das aussehen? Bei einer ersten Geburt erleben Frauen etwas, was sie noch nicht kennen, was für sie völlig neu ist. Das kann verunsichern und Angst machen. In einer angstvollen Situation ist man anfälliger dafür, fremdbestimmt zu werden. Das haben viele Frauen erlebt, die in diesem Buch berichten. Lena Högemann: "Selbstbestimmt gebären bedeutet für mich, zu verstehen, was geschieht, und sagen zu können, was ich empfinde und möchte." Dazu gehöre auch, entsprechend gehört und gesehen zu werden und mitentscheiden zu können, welche Eingriffe vorgenommen werden (entweder, weil sie medizinisch notwendig sind, oder weil sich die Frau selbst dafür entscheidet). 

Mögliche Konsequenzen einer nicht selbstbestimmten Geburt können laut der Autorin sein, dass die Mütter die Geburt als schwer und belastend empfinden und diese Belastung das weitere Leben bestimmt. Daher ist es umso wichtiger, gut vorbereitet zu sein, um andere Wege gehen zu können.

Zehn Sätze über die (traumatisierende) Geburt

Für eine Projektwoche ihrer Tochter sollte Lena Högemann zehn Sätze über die Geburt ihrer Tochter aufschreiben. Diese zehn Sätze bilden nun das Grundgerüst, die Kapitelüberschriften, des Buches. Die Untertitel fassen zusammen und bringen auf den Punkt, worum es im jeweiligen Kapitel geht:

  1. "Wir sind mitten in der Nacht in eine große Klinik gefahren, in der ich dich zur Welt bringen wollte." 
    Schwangere auf der Suche nach Sicherheit
  2. "Ich hatte große Sorge, dass es dir nicht gut gehen könnte."
    Das Geschäft mit der Angst im Klinikalltag
  3. "Leider war es in der Klinik sehr voll, und der Geburtsraum war klein und kühl"
    Kreißsaal-Schließungen, Hebammenmangel und finanzielle Fehlanreize
  4. "Die Hebamme und die Ärzt*innen haben viele Dinge getan, damit die Geburt schneller geht"
    Die Interventionskaskade und körperliche Gewalt im Kreißsaal
  5. "Die Hebamme und die Ärztin waren gemein zu mir"
    Psychische Gewalt, Vernachlässigung und das Coolout-Phänomen
  6. "Nachdem du auf der Welt warst, ging es uns beiden nicht gut"
    Die Folgen traumatischer Geburten
  7. "Heute weiß ich: Deine Mutter zu sein, macht mich sehr glücklich"
    Regretting Motherhood und die fehlende Bindung zum Kind
  8. "Ich bin sehr traurig, dass du und ich keine gute Geburt hatten"
    Was Müttern nach traumatischen Geburten hilft
  9. "Deine Geburt hätte ein schöner Tag werden sollen"
    Kindergeburtstage und ehrliche Gespräche über die Geburt
  10. "Ich habe durch deine Geburt und die deiner Schwester viel gelernt"
    Gute Geburten und die richtige Vorbereitung

Wie kann man die Situation verbessern?

Oft reichen schon kleine Dinge, um einen großen Unterschied zu machen und ein Geburtstrauma möglicherweise sogar zu verhindern. Für Lena Högemann wären es die folgenden für die Geburt ihrer ersten Tochter gewesen:

  • Ein bestärkender und respektvoller Umgang mit mir.
  • Das Aufzeigen verschiedener Optionen und deren Erklärung, statt für mich zu entscheiden.
  • Mir Zeit lassen zu können für eine natürliche Geburt. 
  • Eine schöne Geburtsumgebung.

Leider alles Punkte, die bisher in der klinischen Geburtshilfe NICHT an der Tagesordnung sind. Um die Situation in Geburtskliniken und nach der Geburt zu verbessern, hat die Autorin einige sehr konkrete Vorschläge. Zum Beispiel:

  • verpflichtende Schulungen in traumasensibler Geburtsbegleitung auf allen Geburts- und Wochenbettstationen
  • eine wertschätzende und respektvolle Sprache gegenüber der Gebärenden
  • Junges Personal (Hebammenstudierende, Hebamme, Arzt, Ärztin) muss sagen dürfen, wenn ihm bei älteren Kollegen etwas auffällt, was nicht wohlwollend oder respektvoll ist.
  • Supervision fürs Personal
  • Kliniken sollen sich Feedback zu den Geburtserfahrungen einholen, zum Beispiel anhand eines Fragebogens.
  • Kliniken könnten ein eigenes Leitbild entwickeln, wie sie mit Gebärenden umgehen wollen. Daran sollten sie sich dann auch messen lassen.
  • psychologische Nachgespräche, um festzustellen, ob es der Familie gut geht
  • ein festes Geburtsvorbereitungs-Budget für jede Familie, da die Standard-Geburtsvorbereitungskurse, die die Krankenkasse bezahlt, nicht ausreichend für eine gute Vorbereitung sind. Gute Vorbereitung darf keine Frage des individuellen Geldbeutels sein.
  • Wissen über natürliche Geburtsverläufe
  • Der Grundgedanke, dass eine Geburt an sich erst einmal ein natürlicher Prozess ist, der keiner Intervention bedarf, sollte fest beim Personal verankert sein.
  • finanzielle Fehlanreize für Interventionen abschaffen
  • transparente Auskunft über die Statistik von Eingriffen (nicht nur Kaiserschnitt, sondern etwa auch Dammschnitt und Saugglockengeburt)
  • angenehme Atmosphäre, Farben und Einrichtung in Kreißsälen

Voraussetzung, damit all dies gelingen kann, ist natürlich, dass es genügend Personal gibt.

Ihr wollt tiefer ins Thema einsteigen? Mehr dazu lest ihr in Lena Högemanns Buch "So wollte ich mein Kind nicht zur Welt bringen! Was Frauen für eine selbstbestimmte Geburt wissen müssen" (Ullstein). Hinweis: Das Buch erscheint am 14. März 2024, ist aber bereits vorbestellbar.