Wisch und weg

Trügerische Erinnerungen: Warum wir Eltern die Baby-Zeit so oft verklären

Eltern lieben Fotorückblicke – aber die Erinnerungen an damals spielen uns oft einen Streich. Ist die Vergangenheit wirklich immer so schön, wie wir sie in Erinnerung haben?

Frau liegt auf dem Sofa und guckt auf ihr Handy.© iStock/martin-dm
Hach, damals ... Eltern lieben Foto-Rückblicke ihrer Kinder.

"Schau nach, was du heute vor zwei Jahren erlebt hast." - "Ein Jahr ist es her …."

Die Push-Benachrichtigungen, die mir mein Handy schön regelmäßig schickt, klingen wie diabolische Einflüsterungen, die mich immer wieder dazu bringen, meine Foto-App zu öffnen – und in ein Zeitloch zu fallen. Es ist jedes Mal das gleiche: Ich versinke in honigsüßer Nostalgie. Meist während das Kind nebenan tief und fest schläft. Manchmal führt die Zeitreise auch nur zurück bis zum Nachmittag auf dem Spielplatz und ich swipe abends noch mal in Seelenruhe durch die Fotos des Tages – genau in der Zeit wohlgemerkt, in der ich endlich mal nur um mich kümmern wollte.

Es ist ein Phänomen, das wohl so ziemlich alle Eltern kennen: Egal wie anstrengend der Tag war. Egal wie viele Wutanfälle wir heute begleitet haben. Egal wie unendlich lang die Einschlafbegleitung gedauert hat. Egal wie sehr wir nur endlich unsere Ruhe haben wollten. Sobald wir auf dem Sofa sitzen, beginnt das Doomscrolling durch die Foto-App.

Schöner Schein

In der Wissenschaft gibt es dafür ein Wort: Eskapismus. Wir entfliehen unserer oft ganz schön anstrengenden Eltern-Realität, indem wir in einen Film, ein Buch oder unseren Instagram-Feed abtauchen. Oder eben in unsere Foto-App. Denn was wir da serviert bekommen, sind nur allerfeinste Erinnerungen. Wie süß er da in der Trage schlummert! Was für einen niedlichen Pulli er trägt! Oh, und da umarmt er seinen besten Freund! Nostalgie in Reinform. Nicht auf dem Bild zu sehen: die endlosen Kilometer, die ich gelaufen bin, damit er endlich so selig in der Trage schläft. Oder wie sauanstrengend es war, ihm eben dieses Outfit anzuziehen, weil er sich mit Händen und Füßen gewehrt hat. Und wie zwei Sekunden nach der herzallerliebsten Umarmung der Streit um die Schaufel eskaliert ist.

Wehmut ist mit Vorsicht zu genießen. So heiter und idyllisch die Fotos in meiner App auch sind – sie bilden das Leben eindimensional ab. Wer fotografiert sich schließlich schon dabei, wie er morgens um 5 todmüde Legotürme baut? Oder wie er niedergestreckt von irgendwelchen Kita-Keimen den x-ten Monat in Folge vor sich hinschnieft? Es sind stattdessen die Vorzeige-Momente, die wir dokumentieren. Die, in denen alles schön war und wir alle glücklich. Nostalgie ist tückisch. Sie benutzt Weichzeichner und Filter und täuscht uns eine Vergangenheit vor, die wir so nie erlebt haben.

Von Abschieden und Neuanfängen

"Die Tage sind lang, aber die Jahre sind kurz“ lautet einer dieser Eltern-Sprüche. Und genau das führt uns die Foto-App vor Augen. Wie kann es nur schon drei Jahre her sein, dass er hier auf allen Vieren durch die Zimmer gekrabbelt ist? 

Elternsein bedeutet, permanent Abschied zu nehmen – und oft erst rückblickend zu erkennen, dass ein Abschnitt nun unwiderruflich abgeschlossen ist. Niemals hätte ich beispielsweise an jenem Dezembernachmittag geahnt, dass das nun das definitiv letzte Mal sein sollte, dass ich mit unserem Sohn in der Trage spazieren gehe. Kein Wunder also, dass mir, wenn ich Bilder von diesem Tag betrachte, ganz warm und schwer ums Herz wird. Und ich die Trage-Zeit vermisse, anstatt daran zu denken, wie froh ich war, als er endlich auch mal im Kinderwagen sitzen wollte. Weil ein Foto nur zeigt, wie gut alles war – aber nicht, wie viel besser danach womöglich alles erst noch wurde.

Eskapismus gilt in der Psychologie übrigens als Bewältigungsmechanismus, um mit negativen Gefühlen umzugehen und wird in Maßen als gesund angesehen. Also ist es vielleicht genau das, was wir gelegentlich brauchen, um in Balance zu kommen und zu erkennen, dass Elternsein nicht nur nicht Stress bedeutet. Sondern eben auch genauso sein kann wie die Erinnerungen, die mir meine Foto-App zeigt: nicht perfekt, aber alles in allem schon verdammt schön.