
Was ist das Williams-Beuren-Syndrom?
Das Williams-Beuren-Syndrom (kurz: WBS) ist sehr selten und nicht therapierbar. Nur etwa einer von 8.000 Menschen hat den angeborenen Gen-Defekt mit einem Stückverlust am Chromosom sieben. Betroffenen Personen fehlen deswegen rund 28 benachbarte Gene, insbesondere das Elastin-Gen, das der Körper dazu braucht, um Bindegewebe zu bilden. Dieses sorgt unter anderem für die Dehnungsfähigkeit der Blutgefäße. Daher sind bei Menschen mit WBS Herzprobleme, hoher Blutdruck und Darm-Krankheiten nicht selten. Weitere typische Symptome sind:
- "elfenhafte" Gesichtszüge: vergleichsweise kleiner Kopf mit auffälligen Lippen, kleiner Nase, ausladenden Nasenflügeln, ausgeprägten Wangenknochen und breiter Stirn
- Nierenfehlbildungen
- Kleinwuchs
- intellektuelle Entwicklungsverzögerungen
- leichte bis mittelschwere geistige Beeinträchtigung
- massive Geräuschempfindlichkeit
- Angststörungen
- Schluck, Ess- und Trinkbeschwerden
- Augenerkrankungen
Menschen mit WBS haben aber auch viele positive Merkmale, die sie auszeichnen:
- offenes und freundliches Gemüt
- Freude an den kleinen Dingen des Lebens
- lachen viel, sind sehr sozial
- musikalisches Interesse und Begabungen
- Affinität für Sprache
Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Familie ohne WBS-Vorgeschichte mehr als ein Kind mit dem Williams-Beuren-Syndrom bekommt, ist sehr gering. Da es sich beim WBS jedoch um einen Gendefekt handelt, können Menschen mit dem Syndrom diesen zu rund 50 Prozent vererben.
WBS wurde in den 60er Jahren von den Kardiologen Williams und Beuren zum ersten Mal in der Literatur erwähnt. Die Forschung beschäftigt sich seit rund 25 Jahren mit dem Syndrom und ist somit auf dem Gebiet noch sehr jung. Dank moderner Medizin können Menschen mit WBS aber trotzdem das Senioren-Alter erreichen.
Meine Schwangerschaft war ein Wunder
Ich konnte es fast nicht glauben, als ich im August 2019 einen positiven Schwangerschaftstest in der Hand hielt. Auch die Gynäkologin bestätigte es am nächsten Morgen. Es hatte geklappt. Ich war wirklich schwanger!
Und das, obwohl sie mir noch ein paar Monate zuvor mitteilte, dass mir mit gerade mal 27 Jahren nur noch wenige Eizellen übrig blieben und ich jeden Zyklus nutzen müsse. Dass es dann doch auf ganz natürlichem Weg geklappt hatte, machte meinen Mann Marvin und mich überglücklich. Erst im Mai hatten wir geheiratet. Zu unserem vollkommenen Glück fehlte nur noch ein Kind.

Ein Auf und Ab der Gefühle
Meine Schwangerschaft verlief in den ersten Monaten völlig komplikationslos – bis zum großen Screening in der 21. Woche. Die Ärztin wurde während des Ultraschalls immer stiller und sagte dann: "Mit dem Herzen ihres Kindes stimmt etwas nicht. Sie müssen zu einer Spezialistin.“ Auf dem Herzen seien zwei weiße Flecken zu sehen – sogenannte "White Spots".
Panik breitete sich in mir aus. Einige Tage später hatten wir einen Screening-Termin bei einer Feindiagnostikerin. Sie teilte uns mit, dass unsere Tochter "kerngesund“ sei. Wir waren so erleichtert – doch die positiven Gefühle hielten nur kurze Zeit an.
Denn Greta, der Name stand schon lange fest, entwickelte sich während der weiteren Schwangerschaft langsamer als sie sollte. Sie wog weniger und war kleiner als der Durchschnitt der Babys. Auch die CTGs sorgten dafür, dass ich immer wieder ins Krankenhaus musste, um zu überprüfen, ob mit den Herztönen meines Baby alles in Ordnung war.
Nach einem weiteren schlechten CTG wurde in meiner 38. Schwangerschaftswoche beschlossen, die Geburt einzuleiten. Greta sei so klein, dass man davon ausginge, mein Körper könne sie nicht mehr gut versorgen. Die Herztöne meiner Tochter verschlechterten sich so sehr, dass mitten in der Nacht beschlossen wurde, sie mit einem Not-Kaiserschnitt zu holen. Alles ging sehr schnell, aber verlief zum Glück ohne weitere Probleme. Am 8. April, morgens um 01:55 Uhr hörte ich zum ersten Mal die Stimme meiner Tochter: Sie war winzig und leicht, aber wunderschön. Greta war gesund und wir konnten unser Glück kaum fassen. Wir dachten: "Jetzt wird alles gut." Wie unrecht wir doch hatten – das zeigte sich in den kommenden Monaten …

"Ihr Kind ist völlig normal – entspannen sie sich mal!"
Als ich zum ersten Mal das Gefühl hatte, dass Greta anders ist als Kinder in ihrem Alter, war sie drei Monate alt. Sie wirkte häufig teilnahmslos, ließ die Milch, die sie trank, während des Stillens aus dem Mund laufen und erbrach sich häufig. Sie mochte kein Sonnenlicht und keinen Wind, gebadet werden wollte sie ebenfalls nicht. Ich suchte in den kommenden Monaten mehrfach das Gespräch mit der Kinderarztpraxis. Alle dort arbeitenden Ärzte und Ärztinnen vermittelte mir das Gefühl, ich sei überbesorgt, eine Helikopter-Mutter. Mit Greta stimme alles.
Doch in den folgenden Monaten wurde mir immer mehr klar, dass ich mir das nicht einbildete. Ich kannte mich schließlich aus, denn ich bin selber gelernte Erzieherin. Jeden Entwicklungsschritt, den Kinder ihres Alters machen sollten, vollzog Greta erst sehr viel später. Drehen, Sitzen, Krabbeln, Lachen, Essen, Spielen, Laufen, Sprechen – alles fing bei ihr erst viele Monate verzögert an. Auch ihr Gewicht, ihre Größe und ihr Kopfumfang waren stets im untersten statistischem Bereich, aus dem sie auch zeitweise rausfiel.
Die Lage spitzte sich zu, als ich bei Greta mit fester Nahrung startete. Sie aß lediglich Gläschen, und davon stets nur ein wenig. Sobald ihr Essen ein wenig stückiger war, fing sie an, zu würgen. Und auch die Milch erbrach sie weiterhin regelmäßig. Auch mit der Verdauung hatte Greta massive Probleme. Die Reaktion der Ärzte und Ärztinnen: Greta sei "eine verwöhnte Prinzessin“ und ein mehrtägiger Essensentzug würde das ganze regeln. Und ich solle einfach ein zweites Kind bekommen, um mal "entspannter zu werden“.
Ich war verzweifelt, ich fühlte mich nicht ernst genommen. Langsam, aber sicher zweifelte ich an mir selbst: War meine Wahrnehmung wirklich falsch? Vielleicht ist mit meiner Tochter doch alles in Ordnung und ich war die, die übertrieb. Corona erschwerte die Situation zusätzlich – der Austausch mit anderen Müttern und Kindern fehlte. Auch Marvin war hin- und hergerissen. An manchen Tagen war er sich sicher, dass ich Gespenster sah: "Jedes Kind hat sein eigenes Tempo." An anderen Tagen pflichtete er mir bei. Familienmitgliedern und Freunde verunsicherten mich zusätzlich mit ihren widersprüchlichen Meinungen und Aussagen. Manche machten mir sogar richtig Angst, mit Horror-Storys, die sie gehört hatten und von denen sie meinten, dass sie vielleicht auch auf Greta zutreffen könnten.

Endlich hörte mir jemand zu!
Im Dezember 2021 stieg eine neue Ärztin in unserer Kinderarzt-Praxis ein. Bei der U7 fragte sie mich einen ganzen Katalog an Fragen, die ich schmerzlicher Weise fast durchgehend mit "Nein“ beantworten musste. Auch ihr teilte ich meine Sorgen mit, und diesmal stieß ich auf offene Ohren! Sofort bestätigte sie mir, dass auch sie Gretas Entwicklungsstand als "nicht altersgerecht" empfand. Vor allem der Aspekt, dass sie noch nicht Laufen konnte, missfiel ihr. Sie vereinbarte unmittelbar einen Termin zur stationären Aufnahme in einer Kinderklinik.
Drei Tage waren wir dort. Drei Tage, an denen Greta buchstäblich auf den Kopf gestellt wurde. Es wurden EEG´s geschrieben, ihr Herz und Bauchraum wurden geschallt, Blut und Urin auf alle möglichen Parameter geprüft, psychologische Entwicklungstests durchgeführt, und viele Gespräche mit mir als Mutter geführt. Als die Oberärztin uns zum ersten Mal traf, fragte sie mich direkt, ob es Angehörige gäbe, die Greta ähnlich sehen würden.
Zu diesem Zeitpunkt wollte ich mir nicht eingestehen, dass sie niemandem großartig ähnelte. Die Ärztin erklärte mir, dass Greta optische Auffälligkeiten aufweise. Sie stellte außerdem fest, dass meine Tochter eine Mikrozephalie habe, eine globale Entwicklungsverzögerung, sowie eine nicht unerhebliche Unterernährung aufweise. Die Ärztin hatte einen Verdacht, wollten uns diesen aber nicht ohne die Ergebnisse einer genetischen Untersuchung mitteilen. Doch auf diesen Test mussten wir weitere dreieinhalb Monaten warten.
Das Warten auf eine Diagnose war meine persönliche Hölle!
Ich weinte viel, machte mir Sorgen, versuchte mir immer wieder Hoffnung zu machen und Fortschritte zu erkennen. Wir nahmen alle Hilfen, die zu diesem Zeitpunkt möglich waren, in Anspruch und starteten mit heilpädagogischer Frühförderung.
Doch auch nach dem Termin mit der Humangenetikerin waren wir nicht schlauer: Sie fragte lediglich nach Vorerkrankungen in unseren Familien, machte Fotos von Greta und nahm ihr Blut ab, das eingeschickt und untersucht werden sollte.
Wieder gingen die Monate ins Land. Wieder stieg die Verunsicherung. Ich suchte das komplette Internet nach Menschen ab, die so aussahen wie meine Tochter. Ich fand vieles und letztlich nichts.
Im Juni hatten wir einen Termin im Sozialpädiatrisches Zentrum, der uns etwas näher an die Diagnose brachte. Die Ärztin schaute mein Kind an, drehte sich zu ihrem PC, tippte wild auf ihre Tastatur ein, drehte den Bildschirm und sagte: "Ich weiß schon, was das Problem ist, sehen sie, diese Kinder haben das sogenannte Williams-Beuren-Syndom und sehen aus wie ihres.“ Ich war absolut geschockt, die Gefühle und Gedanken wechselten sekündlich von "Nein, niemals sieht sie so aus“ zu "Ja, das Kind könnte mein eigenes sein“. Ich wies die Ärztin darauf hin, dass die Klinik explizit auf eine mögliche Diagnosen-Findung ohne konkrete Ergebnisse verzichtet hat. Die Ärztin wurde hektisch, drehte den Bildschirm weg und sagte "Ja, ja dann warten sie mal das Ergebnis der genetischen Untersuchung ab und googeln sie nicht weiter“.
Für wie naiv hielt uns diese Ärztin? Wir waren seit Monaten auf der Suche nach einer Antwort. Natürlich googelten mein Mann und ich bis spät in die Nacht nach weiteren Informationen, Fotos, Symptomen zu diesem Syndrom … Erst fanden wir eine Horrorgeschichte nach der anderen. Doch dann stießen wir bei Instagram auf ein kleines Mädchen aus der Schweiz. Dieses Profil gab uns sehr viel mehr Informationen als alles, was wir sonst zu der Thematik fanden. Dieses Mädchen hätte Gretas Schwester sein können, so ähnlich sahen sie sich.

"Ja, ihre Tochter hat das Williams-Beuren-Syndrom"
Weitere Monate vergingen, in denen wir warteten, bangten und hofften. Im August war es dann so weit. Diesen Tag werde ich nie vergessen. Wir wurden in einen Raum geführt, wo wir warten sollten. Minuten fühlten sich wie Stunden an. Plötzlich kam die Ärztin herein, die wir bereits kannten. Sie bestätigte, was die andere Ärztin schon vermutete und teilte uns sehr teilnahmslos mit, dass unsere Tochter das Williams-Beuren-Syndrom habe.
Obwohl ich es schon im Vorfeld wusste, blieb die Welt für mich in diesem Moment für eine ganze Weile stehen. Die Ärztin teilte uns einige Aspekte über den Gendefekt mit und nahm mir Blut ab, doch all das registrierte ich nicht mehr. Ich weinte lautlos. Die ganze Zeit über liefen mir die Tränen in Strömen über die Wangen. Es war real – unsere Tochter hat einen seltenen Gendefekt, sie hat eine Behinderung – in einer Gesellschaft, die es bis heute nicht geschafft hat, inklusiv zu sein. In dem Moment brach meine Welt zusammen! Am Ende ihrer Rede legte sie mehrfach das Augenmerk darauf, dass beim nächsten Kind alles besser sein würde. Als hätten wir uns über ein kaputtes Auto unterhalten und nicht über mein geliebtes Kind.
Wir fassten wieder Mut
Einige Tage weinten wir viel, unterhielten uns, machten uns Luft und trauerten – für unsere Tochter. Wir hätten ihr doch so gern ein einfacheres Leben gewünscht! Wir betrauerten, nie Großeltern zu werden, wahrscheinlich nie auf der Hochzeit unserer Tochter zu tanzen oder ihr bei der Zeugnisvergabe ihres Abiturs zuzujubeln. All diese Träume zerbrachen in viele kleine Teile.
Doch nach und nach rappelten wir uns wieder auf und beschlossen alles Menschenmögliche dafür zu tun, dass aus Greta ein starkes, fittes und kompetentes Mädchen wird. Wir kauften jegliche Literatur zum Williams-Beuren-Syndrom, die wir finden konnten.
Nachdem ich mich ausführlich eingelesen hatte, stellte ich fest, dass viele Begleiterscheinungen (Schluckbeschwerden, nicht zuzuordnende Bauchschmerzen, ein geringes Gewicht) auch bei Greta zutrafen und man ihr schon viel eher durch Therapien und Medikamente hätte helfen können. In der Regel werden Kinder bereits in sehr jungem Alter mit WBS diagnostiziert. Das hängt mit den meist einhergehenden Herzerkrankungen zusammen.
Jetzt kommt aber der schöne Teil dieser "traurigen“ Geschichte: Greta hat zum aktuellen Zeitpunkt keinerlei körperlichen Symptome. Ihr Herz, die Nieren, Augen, Schilddrüse und Co. sind unauffällig. Das ist super selten und grenzt an ein Wunder!
Mittlerweile kann Greta laufen, sie spricht Zwei- und teilweise Drei-Wort-Sätze und kann uns so ihre Wünsche, Probleme und auch Ängste mitteilen. Dank intensiver Logopädie kann sie auch besser essen. Sie liebt Musik in jeglicher Form und ist zugleich absolut geräuschempfindlich. Sie liebt es, mit Menschen zusammen zu sein, Bücher zu betrachten und Geschichten zu hören. Wenn sie lacht, geht um sie herum die Sonne auf. Wir möchten sie keinen Tag mehr missen!

Ich will anderen Eltern mit WBS-Kindern helfen
Seit der WBS-Diagnose sind nun einige Monate vergangen und ich bin erleichtert, eine Antwort gefunden zu haben. Mein Bauchgefühl war richtig. Und die Diagnose ist auch eine Art Erleichterung – denn jetzt wissen wir, wie wir unsere Tochter gezielt fördern können. Mein Mann und ich haben uns mittlerweile dem Bundesverband Williams-Beuren-Syndrom e.V. angeschlossen, über den wir andere Betroffene und die leitende Oberärztin der Helios Klinik kennengelernt haben, der deutschlandweit einzigen Klinik, die sich mit dem WBS-Syndrom beschäftigt. Dadurch bekommen wir immer mehr Unterstützung und hilfreiche Informationen. Außerdem gründete ich die erste Selbsthilfegruppe für Eltern von Kindern mit Behinderung in unserer Stadt. So kann ich mich endlich mit andern betroffenen Elternteilen austauschen.
Manchmal überkommt mich nach wie vor Trauer. Gern hätte ich meiner Tochter ein anderes Leben gewünscht. Ein leichteres Leben, ohne viele Vorurteile, ohne große Anstrengung Dinge zu erlernen, ohne Angst vor der Zukunft. Das ist ok. Diese Momente werden immer wieder kommen, aber wir werden einen Weg finden – gemeinsam als Familie.
Doch eins ärgert mich bis heute: Hätte man mich früher ernst genommen, hätte man uns und vor allem Greta schneller helfen können. Deswegen will ich unbedingt über das Williams-Beuren-Syndrom aufklären und habe zusammen mit meinem Mann im November 2022 einen Instagram-Account ins Leben gerufen, welcher WBS ein Gesicht und eine Stimme geben soll. Denn immer noch ist vielen (Fach-)Leuten das Syndrom unbekannt. Das wollen wir ändern. Mir schreiben mittlerweile viele Mamas, die bei ihren Kindern auch Dinge beobachten, die ihnen nicht "normal" vorkommen. Ich versuche ihnen, so gut es geht, mit meinen Erfahrungen und gewonnen Wissen zu helfen. Ich erkläre ihnen, was sie als Nächstes tun sollten, etwa sich um eine Frühförderung zu kümmern oder Pflegedienst zu beantragen. Und wir kämpfen für eine inklusivere Gesellschaft, in der unsere Tochter hoffentlich eines Tages Fuß fassen und Spuren hinterlassen kann.