
Wenn der kurze Weg zum Briefkasten eine Ewigkeit dauert. Wenn das Kind sich beharrlich weigert, die Schuhe anzuziehen, obwohl man dringend los muss. Wenn es längst Schlafenszeit ist und es doch noch siebenmal wieder aufsteht. Dann wird es selbst für die entspanntesten Eltern zur Mammutaufgabe, nicht die Nerven zu verlieren.
Ist den Eltern (mal wieder) die Hutschnur geplatzt, lässt das schlechte Gewissen nicht lange auf sich warten. Weil wir in Wirklichkeit doch wissen, dass sich Kinder nun mal eben wie Kinder benehmen. Und weil wir doch eigentlich nicht mehr schimpfen wollten.
Fühlen sich Eltern übermüdet, überfordert, gestresst und dazu womöglich auch noch hungrig, braucht es oft nicht viel, um die Fassung zu verlieren – und dass, obwohl wir genau wissen, wie sich das auf die Beziehung zu unseren Kindern auswirkt und wie schlecht wir uns danach fühlen.
Die gute Nachricht: Geduld lässt sich üben. Selbst wer von Haus aus nicht besonders üppig damit ausgestattet wurde, kann mit etwas Konsequenz lernen, nicht mehr so schnell die Nerven zu verlieren.
Warum Eltern so oft die Geduld verlieren
Die To-do-Listen in den meisten Familien sind schier unendlich: Zwischen Arbeit, Haushalt und Kinderbetreuung bleibt kaum Zeit zum Durchatmen. Wenn dann gleich wieder Tomatensoße auf dem endlich frisch gewischten Fußboden landet, kann das das Fass zum Überlaufen bringen. Oder wenn wir noch schnell diesen komplizierten, zuckerfreien Einhorn-Kuchen von Instagram fürs Kita-Fest nachbacken wollen, während das Kind permanent Aufmerksamkeit verlangt, sodass wir uns keine drei Sekunden am Stück aufs Rezept konzentrieren können. Viele Eltern setzen sich mit ihren perfektionistischen Ansprüchen an sich selbst unter Druck, und das führt regelmäßig dazu, dass die Nerven blankliegen.
Hinzukommt, dass Zeit für sich selbst meist auf der Strecke bleibt. Wer kaum Pausen einlegt oder sich Zeit für Dinge nimmt, die einem guttun, hat weniger Ressourcen, um in stressigen Situationen die Ruhe zu bewahren.
Wie sich Ungeduld auf Kinder auswirkt
Kinder haben feine Antennen dafür, wenn ihre Eltern angespannt und gereizt sind. Sie spüren die Ungeduld, wissen sie jedoch oft nicht richtig einzuordnen. In der Folge fühlen sie sich verunsichert oder zweifeln an sich selbst.
Kinder lernen durch unser Vorbild. Erleben sie ihre Eltern ständig dünnhäutig und genervt, adaptieren sie diese Verhaltensweisen. Wutausbrüche, Trotz oder auch Rückzug in sich selbst können die Folge sein. Es fällt ihnen zudem schwerer, sich zu öffnen und über Probleme zu sprechen, wenn sie wiederholt erleben, dass Eltern keine Zeit haben, sich ihre Erzählungen, Sorgen oder Nöte anzuhören.
Geduld üben: So gelingt es Eltern
Atara Malach, Psychologin und Autorin, erklärt gegenüber "Psychology Today": "Wenn Eltern merken, dass ihnen die Geduld abhandenkommt, sollten sie versuchen, die Welt durch die Augen des Kindes zu sehen. Geduld bedeutet nicht, perfekt zu sein. Es geht darum, kleine, konsequente Anstrengungen zu unternehmen, um Kindern mit Liebe und Verständnis zu begegnen, auch – oder gerade – in frustrierenden Momenten."
Sie rät Eltern dazu, sich an einem Ampelsystem zu orientieren: Grün steht für Liebe, Gelb für Vertrauen und Rot für Autorität. Je nach Situation können Eltern gezielt zwischen den drei Farben hin- und herwechseln. Entscheidend ist, dass sie sich bewusst machen, in welchem Zustand sie sich gerade befinden.
Und so funktioniert's:
Grün: Hier geht es darum, aktiv zuzuhören und Empathie zu zeigen. "Manchmal reicht es, dem Kind einfach nur zuzuhören, ohne einzugreifen, um das Problem zu lösen", erklärt die Expertin. Sie empfiehlt, regelmäßig einen ruhigen Raum zu schaffen, in dem Eltern und Kind in angespannten Momenten verschnaufen können. Wutanfälle und Konflikte werden dadurch in den meisten Fällen schnell entschärft. Atara Malach rät dazu, sich täglich mindestens 15 Minuten intensiv Zeit für sein Kind zu nehmen. "Das stärkt nicht nur die Beziehung zu zu den Kindern, sondern vermittelt ihnen auch, dass sie im Leben der Eltern Priorität haben."
Rot: Es ist wichtig, klare Familienregeln festzulegen. Kinder sollten sich über die Erwartungen bewusst sein und die Konsequenzen kennen. Wichtig: Nicht vergessen, sich selbst zu loben, wenn es uns gelungen ist, trotz Protest und Quengeleien ruhig zu bleiben. "Wenn die Regeln festgelegt sind, ist es wichtig, die Kinder in den Prozess einzubeziehen. Dadurch haben sie ein Gefühl der Kontrolle und befolgen die Regeln eher. Konsequenz ist der Schlüssel – denn Kinder gedeihen, wenn sie wissen, was sie erwartet."
Gelb: Die Anforderungen an Eltern sind hoch. Entsprechend wichtig ist es, gut auf sich selbst zu achten und Techniken zu kennen, um Stress zu bewältigen. Tief durchatmen oder die Situationen für einen Moment zu verlassen, kann Wunder wirken. "Regelmäßige Momente der Ruhe können einen großen Unterschied darin machen, wie Eltern auf Herausforderungen reagieren." Auch Kinder können diese Techniken lernen, und Eltern können ihnen dabei helfen, ihre Gefühle auf gesunde Weise auszudrücken.
Wenn es Eltern gelingt, sich bewusst zu machen, in welcher der drei Phasen sie sich gerade befinden, ist das eine gute Voraussetzung, um stressige Situationen geduldiger zu meistern. Es ist wie ein Fahrplan, der dabei hilft, durch den herausfordernden Alltag zu navigieren. Wer sich selbst gut kennt und Klarheit über seine eigenen Gefühle hat, läuft weniger Gefahr, dass ihm alles über den Kopf wächst. Wichtig ist: Auch kleine Schritte hin zu mehr Geduld sind ein Gewinn – für Eltern und Kinder.