
"Mein Sohn hat auf dem Flohmarkt ein 'Elsa'-Kleid gesehen und wollte es unbedingt haben. Also habe ich es ihm gekauft, er findet die 'Eiskönigin' doch so toll", erzählte mir kürzlich eine befreundete Mutter. "Und jetzt will er es ständig tragen – auch in der Kita. Mir wäre das ja egal, aber ich will ihn doch beschützen. Von einem Jungen hat er dafür schon blöde Sprüche bekommen …"
Keine Frage: Wohl alle Eltern wünschen sich, dass sich ihre Kinder frei entfalten dürfen – aber mindestens genauso sehr, dass sie nicht ausgelacht werden …
Selbst liberale Eltern stoßen an diesem Punkt oft an ihre Grenzen: Klar darf mein Sohn mit Puppen spielen, aber das rosa Glitzerkleid, das geht dann doch zu weit.
Viele Eltern reagieren verunsichert
Ein natürlicher Schutzreflex, und trotzdem liegt dem eine Denkweise zugrunde, die hinterfragt werden sollte, wie die Autorin und Journalistin Almut Schnerring ("Die Hellblau-Rosa-Falle") findet: "Nicht das Kind, das sich angeblich 'untypisch' kleidet, zu lange/kurze Haare hat, nicht die 'richtigen' Interessen hat, muss lernen, mit Hänseleien umzugehen, sondern die hänselnden Kinder (die Eltern und Fachkräfte, die ihre Vorurteile nicht reflektiert habe) müssen lernen, damit klarzukommen, dass 'anders' nicht gleich 'falsch' ist."
Stimmt absolut! Aber in der Praxis leider nicht ganz so einfach. Viele können die Angst nicht abschütteln, dass ihr Kind Schaden nehmen könnte, wenn es von anderen verspottet wird.
Die Erziehungsexpertin und Autorin Nicola Schmidt ("artgerecht") ermutigt Eltern jedoch, sich selbstbewusst hinter ihr Kind zu stellen: "Eltern dürfen nie unterschätzen, welchen Einfluss sie als primäre Bezugspersonen haben: Wenn wir die Türen aufmachen, kann die Gesellschaft die Türen so laut zuknallen wie sie will. Wenn ich sage: Du darfst alles anziehen und mit allem spielen, was du magst, dann habe ich gute Chancen, dass es das Kind so verinnerlicht."
Kinder brauchen Freiheiten
Letztlich geht es doch um das Grundverständnis, dass allen Menschen die gleichen Möglichkeiten offenstehen. Was macht es im Umkehrschluss mit Kindern auf Dauer, wenn sie ständig zu hören bekommen, dass Jungs keine Mädchensachen tragen oder Mädchen nicht mit Jungssachen spielen sollen?
Ein Grundsatz der genderneutralen Erziehung ist es, den Kindern bei ihren Entscheidungen nicht hereinzureden. Das schließt jedoch nicht aus, mit den Kindern im Gespräch zu bleiben. So können die Eltern ihr Kind zum Beispiel fragen, warum es gerade gern Kleider anzieht. Die Antworten können spannend sein, und manchmal stecken ganz pragmatische Gründe dahinter: Vielleicht kann ein Junge im Rock einfach besser klettern.
Rosa hat nicht den besten Ruf
Und dann gibt es noch einen anderen Grund, warum es den meisten Eltern nicht einfach piepegal ist, wie ihr Kind sich kleidet: Weil wir denken, dass der Style unserer Kinder uns als Eltern widerspiegelt.
Deswegen sind auch viele Mädchen-Eltern nicht gerade begeistert, wenn ihre Tochter plötzlich Gefallen an Rosa und Pink findet. Fast entschuldigend kommentierte eine Mutter auf dem Spielplatz kürzlich das rosa Glitzershirt ihrer Tochter. "Wir bekommen diese Sachen immer von einer Bekannten geschenkt, ich finde das ja eigentlich ganz furchtbar."
Klar: Moderne Eltern wollen zeigen, dass die aktuelle Genderdebatte nicht spurlos an ihnen vorbeigegangen ist, dass sie ihre Töchter nicht zu niedlichen, sanften Feen erziehen wollen, sondern ihnen vermitteln, dass sie genauso laut und wild wie Jungs sein dürfen. Und ein pinkes Tutu hat da halt erstmal eine andere Außenwirkung ...
Genderklischees sind allgegenwärtig
Dabei ist es Teil der Identitätsfindung, dass sich Kinder bei der Kleidung ausprobieren. Jungs tragen Kleider, Mädchen kleben sich Bärte an – für Kinder ist das ein ganz normaler Entwicklungsprozess und im Zweifelsfall eh nur eine Phase. Viel wahrscheinlicher ist, dass sich das Blatt schon bald wieder wenden wird. Weil Kinder von Freunden, Familie und Werbung – kurz: der ganzen Gesellschaft – tagtäglich vorgelebt bekommen, was typisch männlich und was typisch weiblich ist, werden sich die meisten von ihnen den Genderklischees auf Dauer sowieso nicht entziehen können.
Eltern, die es bei all dem Druck von außen schaffen, dieses Rollendenken zu überwinden und ihren Jungs auf Wunsch die Nägel pink lackieren und ihnen das Rüschenkleid erlauben, verdienen doch eigentlich die größte Bewunderung. Da feiere ich die eine Mutter, deren vierjähriger Sohn gerade täglich in ein und demselben Blumenkleid über den Spielplatz tobt und die das ganz lässig kommentierte: "Er möchte ein Mädchen sein." Und nächste Woche dann vielleicht Feuerwehrmann, Astronaut oder Tierarzt ...