
Wer sich mit den Bestsellern unter den Erziehungsratgebern beschäftigt, kommt an einem Schlagwort kaum vorbei: Co-Regulierung. In der bedürfnisorientierten Erziehung sind Empathie, Respekt und Augenhöhe von zentraler Bedeutung. Das heißt: Große Gefühlsstürme wie beispielsweise Wutausbrüche werden liebevoll begleitet – co-reguliert eben. Die kindlichen Bedürfnisse stehen an erster Stelle.
Darüber, dieser Ansatz sinnvoll ist, herrscht inzwischen Konsens. Nur: Die praktische Umsetzung birgt einige Tücken – zum Beispiel die, dass einige Eltern übers Ziel hinausschießen ...
Eltern nehmen die Gefühle heutzutage ernster denn je
"Ja, ich glaube, dass die Wahrnehmung und Bestätigung von Gefühlen von entscheidender Bedeutung für die psychische Gesundheit von Kindern und für gesunde Eltern-Kind-Beziehungen ist", betont Claire Lerner, US-Psychotherapeutin und Spezialistin für kindliche Entwicklung.
Für die Expertin, die auf mehr als 30 Jahre Berufserfahrung zurückblickt, gibt es dabei jedoch ein großes Aber: "Was ich jetzt sehe, ist, dass Eltern glauben gemacht wurden, dass es immer das ist, was Kinder brauchen: sich tief in ihre Gefühle hineinzuversetzen."
Vor allem Social-Media-Einflüsse hätten dafür gesorgt, dass viele Eltern geradezu "besessen" von den Gefühlen ihrer Kinder seien. Instagram und Co sind besonders bei Müttern beliebte Kanäle, um sich über Erziehungsmethoden zu informieren. Der Tenor vieler Accounts lautet: Kindliche Gefühle sind so etwas wie der Heilige Gral, und je akribischer und gewissenhafter Eltern die Emotionen ihrer Kinder ausloten, desto besser.
Bedürfnisorientiert soll die Erziehung heutzutage sein. Schimpfen und Strafen sind out, Bindung ist das Stichwort. Diesen Grundsatz stellt die Expertin auch gar nicht infrage. Sie gibt jedoch zu bedenken: Wie intensiv sich Eltern mit den Emotionen ihrer Kinder beschäftigten sollten, variiert je nach Kontext und Timing stark.
Kindern die Möglichkeit geben, sich selbst zu regulieren
Denn es sei von der Situation abhängig, ob es wirklich sinnvoll ist, den kindlichen Gefühlen intensiv nachzuspüren – oder ob dieses Verhalten sogar nach hinten losgehen kann. Ein Beispiel aus ihrer Praxis: Ein Kind ist wütend und aufgebracht und zieht sich in sein Zimmer zurück, um sich dort zu beruhigen. Anstatt ihn in Ruhe zu lassen, folgen ihm Eltern, wollen mit ihm über seine Gefühle sprechen und machen sich Sorgen, weil er sich ihnen nicht anvertraut. Für die Psychologin gilt es, Fingerspitzengefühl zu entwickeln. Natürlich ist es wichtig, Kinder wissen zu lassen, dass ihren Eltern ihre Gefühle am Herzen liegen. Auf der anderen Seite ist es aber auch entscheidend, nicht aufdringlich und grenzüberschreitend zu sein. Oftmals ein schmaler Grat.
Liebevolle Führung statt unverhältnismäßiger Empathie
"Ein Phänomen, das ich in den letzten Jahren beobachtet habe, ist, dass Kinder bereits im Alter von drei Jahren merken, dass ihre Eltern so sehr um ihre Gefühle besorgt sind, dass sie dafür alles andere liegen lassen", so Claire Lerner.
Schon kleine Kinder seien clever genug, um ganz schnell herauszufinden, wie sie "große Gefühle" für sich nutzen können – um beispielsweise die Schlafenszeit hinauszuzögern oder ihr Zimmer nicht aufräumen zu müssen.
Besonders problematisch: Indem Eltern den Gefühlen ihrer Kinder unverhältnismäßig große Aufmerksamkeit widmen, bleibt oft etwas Entscheidendes auf der Strecke – nämlich dass sie Grenzen setzen. "Das ist es, was alle – Eltern und Kinder – unglücklich macht", so die Expertin.
Sie empfiehlt: In bestimmten Situationen brauchen Kinder Anleitung und Unterstützung viel mehr als übertriebene Empathie. Wenn sich Eltern zu sehr in die Gefühle ihres Kindes verstricken und versuchen, es beispielsweise während eines Wutanfalls zu regulieren, eskaliert die Situation oftmals erst recht.
Sinnvoller ist es, schwierige Situationen im Nachgang noch einmal Revue passieren zu lassen und daraus Schlüsse fürs nächste Mal zu ziehen: "Wenn das Kind reguliert ist, lohnt es sich, den Gefühlen tiefer nachzugehen und zu überlegen, wie sich diese Momente in Zukunft besser bewältigen lassen."
Quelle: psychologytoday.com