Expertin erklärt

Selbstschutz und Suche nach Bestätigung: Warum sich Eltern so oft gegenseitig verurteilen

Seien wir ehrlich: Wir alle tun es. Doch warum verurteilen wir ständig andere Eltern? Eine Expertin erzählt, was dahintersteckt und warum wir letztlich nur uns selbst damit schaden.

Zwei Mütter treffen sich zum Spielen mit Babys zu Hause.© iStock/monkeybusinessimages
Mehr Miteinander statt Gegeneinander: Mit Solidarität fahren Eltern besser.

Cool Mums Don’t Judge. So steht es geschrieben auf T-Shirts, Kaffeetassen, Jutebeuteln, Postkarten. Und klar, wir alle wissen: Es geht uns im Grunde genommen überhaupt nichts an, wer stillt oder eben nicht und wenn ja, wie lange, wer sein Kind immer als letztes aus der Kita abholt und wer direkt komplett kindergartenfrei erzieht, wer ständig Butterkekse und Würstchen in die Brotdose packt und wer sein Kind ausschließlich von Linsenbratlingen und Rohkost ernährt.

Und doch: Wer nicht schon mal heimlich mit kritisch hochgezogenen Augenbrauen die Erziehungsmethoden anderer Eltern beäugt hat, werfe den ersten veganen Bio-Snack. Denn es ist doch so: Wenn wir den Wutanfall eines anderen Kindes miterleben, das sich strampelnd, brüllend und fluchend dagegen wehrt, den Spielplatz zu verlassen und schließlich von den entnervten Eltern unterm Arm nach Hause geschleppt wird, während unser eigenes Kind ganz folgsam neben uns hertrottet, dann können wir uns schon einen kurzen Moment der Illusion hingeben, dass wir das mit der Erziehung ja offenbar ganz wunderbar hinbekommen haben. Und die anderen eben nicht.

Das Problem mit der Beurteilerei ist doch: Sie passiert quasi ständig und überall und noch viel schneller, als wir uns selbst unsere guten Vorsätze in Erinnerungen rufen können.

Selbstschutz und Bestätigung: Warum wir urteilen

"Im Grunde urteilen wir aus Selbstschutz und Bestätigungsbedürfnis", erklärt Psychologin Dr. Anne Welsh gegenüber "todaysparent.com". "Wir wollen uns vor der schmerzhaften Realität schützen, dass wir nicht so viel Kontrolle über das Leben unserer Kinder haben, wie wir gerne hätten." Die Logik ist denkbar einfach: Wir alle lieben unsere Kinder und wollen sie bestmöglich erziehen. Der Gedanke, dass wir etwas falsch machen könnten, ist für uns beinahe unerträglich. Und daraus ziehen wir unbewusst eine simple Schlussfolgerung: Weil es ja einfach nicht sein darf, dass wir selbst in der Erziehung Fehler machen, müssen wohl alle anderen, die einen anderen Weg gehen als wir selbst, auf der falschen Spur sein. 

Erschwerend kommt hinzu, dass keine Elterngeneration vor uns derart mit Informationen über Erziehungsmethoden bombardiert wurde wie wir. Bei Social Media, in Zeitschriften, im Buchladen – überall wimmelt es vor Ratgebern und schlauen Tipps, wie Kinder am besten erzogen werden. Kein Wunder, dass wir uns alle für Experten halten und uns durch unser angelesenes Wissen anderen schnell überlegen fühlen. 

Warum Urteile uns selbst schaden

Ein anderer Grund, warum wir über andere Eltern urteilen, ist die Suche nach Anerkennung. "Viele von uns sind mit viel externer Bestätigung aufgewachsen, zum Beispiel durch Noten, Gehalt und Berufsbezeichnung. Wir wurden darauf konditioniert, diese Form der Bestätigung zu suchen, die uns sagt: 'Ich bin gut genug'", so die Expertin. Doch wenn wir Kinder bekommen, sind wir plötzlich auf uns selbst gestellt. Für Eltern gibt es keine Beförderung, keine Gehaltserhöhung, keine Eins mit Sternchen – egal wie viel Durchhaltevermögen wir bei der Einschlafbegleitung an den Tag legen oder mit wie viel Engagement wir täglich dreimal frisch kochen.

Wenn wir andere verurteilen, erklärt Anne Welsh, schüttet unser Gehirn Dopamin aus. "Wir denken uns: 'Wenigstens tue ich das nicht.' Das fühlt sich vorübergehend gut an, aber letztendlich nagt es an unserem Selbstvertrauen und unserer Fähigkeit als Eltern. Wir bleiben noch stärker in dieser Richtig/Falsch-Dynamik stecken und verlieren an Flexibilität und Feingefühl", sagt sie. 

Die eine richtige Erziehung? Gibt es nicht!

Das grundlegende Problem besteht darin, dass es nicht die eine richtige Art der Erziehung gibt. "Wenn es die gäbe, gäbe es nicht 300 Bücher zu diesem Thema", so Anne Welsh. Tatsächlich gibt es jedoch zahllose Möglichkeiten, um die individuellen Bedürfnisse jedes Kindes, jeder Familie zu erfüllen, und alle Eltern müssen für sich den richtigen Weg finden – auch wenn Außenstehende manche Entscheidungen womöglich nicht nachvollziehen können.

Besonders Mütter stehen heute unter großem Druck, alles richtig machen zu müssen. "Berufstätige Mütter verbringen mehr Zeit mit ihren Kindern als Mütter, die in den 70er Jahren zu Hause waren. Wir sollen Pinterest-würdige Häuser und Geburtstagsfeiern haben, aber gleichzeitig auch von generationsübergreifenden Traumata genesen. Wir sollen jederzeit emotional perfekt reguliert sein, bekommen aber keine Unterstützung oder Zeit für Selbstfürsorge", erklärt Anne Welsh das Dilemma, in dem viele Frauen stecken. 

Der erste Schritt zur Veränderung: Bei uns selbst anfangen

Am sinnvollsten wäre es, dem Urteil anderer keinen Wert beizumessen, doch die Psychologin räumt ein, dass das kaum möglich ist: "Oft wird vorgeschlagen, es einfach abzutun und sich zu sagen: 'Wen interessiert es, was sie denken?' Aber das funktioniert nicht, denn im Grunde interessiert es uns doch."

Sie rät deshalb dazu, bei sich selbst anzufangen und kritisch zu hinterfragen, in welchen Situationen wir andere beurteilen und gezielt gegenzusteuern. Im Zweifelsfall lohnt sich ein Vertrauensvorschuss gegenüber anderen Eltern: "Wir sollten uns in Erinnerung rufen, dass wir alle unser Bestes geben und nach bestem Wissen handeln."

Wenn wir uns selbst immer wieder dabei erwischen, andere Eltern zu verurteilen, sagt das oftmals viel über uns selbst aus. Häufig stecken unerfüllte Bedürfnisse oder Selbstzweifel dahinter. Es lohnt sich also, erstmal vor der eigenen Haustür zu kehren. 

Letztlich ist es doch so: Egal ob Vollwertkost oder Vollmilchschokolade in der Brotdose – am Ende sind wir alle einfach Eltern, die ähnliche Sorgen umtreiben und die vor ähnlichen Herausforderungen stehen. Da können wir doch genauso gut zusammenhalten.