
"Meine Eltern sagen immer, ich hätte schon von Anfang an durchgeschlafen – und das in meinem eigenen Bett", erzählt mir eine Freundin, während sie müde ihr Baby im Arm wippt und einen großen Schluck aus ihrer Kaffeetasse nimmt. "Wahrscheinlich haben sie mich in Wirklichkeit einfach schreien lassen ..."
Was sie sagt, stimmt mich nachdenklich. Denn es ist wirklich ein eigenartiges Phänomen: Sobald wir selbst Kinder bekommen, hören wir plötzlich überall und ständig Geschichten davon, wie einfach doch früher alles war – während wir selbst völlig erschöpft sind von durchwachten Nächten, stundenlangen Einschlafbegleitungen oder dem x-ten Wutanfall des Tages ...
"Also meine Kinder haben früher nie geschrien …" Es sind Sätze wie diese, bei denen wohl alle Eltern der Verdacht beschleicht: Das kann doch nicht stimmen … Oder uns – je nach Tagesform – auch nur ein einziges Wort dazu einfällt: Bullshit!
Während wir diese Anekdoten über unsere eigene Kindheit früher vielleicht noch nicht weiter hinterfragt haben, erscheinen uns manche Geschichten nun, da wir selbst Kinder haben, vor allem eines: unglaubwürdig. Wenn wir die Großeltern-Erinnerungen mit unserer eigenen Realität abgleichen, drängt sich der Verdacht auf: Entweder binden uns unsere Eltern einen Bären auf – oder sie haben schlichtweg vergessen, wie es damals wirklich war.
Gramnesie: Wenn die Erinnerung verblasst
Weil dieser eigenartige Gedächtnisverlust so weit verbreitet ist, gibt es nun einen eigenen Begriff dafür: Gramnesie – ein Kofferwort aus Großeltern und Amnesie. Der Ausdruck trendet gerade bei Social Media und scheint bei etlichen Eltern einen Nerv zu treffen.
Allie McQuaid ist Psychotherapeutin, selbst Mutter und erklärt, was dahintersteckt. In ihrem Beruf hat sie mit vielen Millennial-Eltern zu tun, deren Eltern offenkundig unter Gramnesie leiden. "Ich höre so viele Geschichten von meinen Klienten darüber, wie sie von ihren eigenen Eltern – also den Großeltern ihrer Kinder – mit Kommentaren bombardiert werden wie 'Du hattest als Kind nie Wutanfälle' oder 'Ich habe dir beigebracht, aufs Töpfchen zu gehen, bevor du eins warst'."
Sprüche wie diese sind für die Expertin ein Hinweis darauf, dass viele Menschen der älteren Generation tatsächlich vergessen haben, wie herausfordernd die ersten Jahre mit Kind wirklich waren.
Diese wenig hilfreichen Kommentare führen oft zu (unausgesprochenen) Konflikten zwischen den Generationen. Denn wenn wir von unseren Eltern hören, dass wir ja früher immer ach so friedlich waren – ob das stimmt oder nicht, sei dahingestellt –, ändert das nichts an der Tatsache, dass unser Baby jetzt gerade weint und uns braucht. Und es mindert auch nicht den Stress, den wir erleben – im Gegenteil. "Eltern haben genug um die Ohren, dass sie nicht auch noch Kommentare brauchen, die ihnen das Gefühl geben, als frischgebackene Eltern zu versagen", so die Therapeutin.
Erziehung hat sich grundlegend verändert
Sie rät dennoch dazu, Verständnis für die Großeltern-Generation zu zeigen. Es sei ein ganz normaler Prozess, dass Erinnerungen mit der Zeit verschwimmen – besonders, wenn sie schwierig oder womöglich sogar traumatisch waren. "Euphorische Erinnerung" heißt es in der Psychologie, wenn wir uns im Nachhinein viel positiver an die Vergangenheit erinnern, als sie tatsächlich war.
Hinzu kommt, dass sich der Umgang mit Kindern in den vergangenen Jahrzehnten drastisch geändert hat. Stichwort: Bedürfnisorientierte Erziehung. In den 80ern hatte davon wohl noch niemand etwas gehört, und entsprechend schwer kann es für die Großeltern-Generation sein, die Erziehungsmethoden der heutigen Eltern nachzuvollziehen.
Doch auch wenn die Gründe für die Gramnesie – zumindest teilweise – nachvollziehbar sind, ändert das nichts daran, dass es für Eltern einfach nur frustrierend ist, wenn sie sich mal wieder anhören dürfen, dass sie selbst nie solche Wutanfälle gehabt hätten. Oder dass sie ja immer brav alles gegessen hätten, was auf den Tisch kam.
Verständnis für die Großeltern ist sinnvoll
Allie McQuaid empfielt Eltern, genau abzuwägen, ob sie Energie für einen Konter aufbringen wollen. Im Zweifelsfall sei es sinnvoller, die Diskussion auf später zu verschieben und sich erst einmal um sein Kind zu kümmern – um das Thema gegebenenfalls beim nächsten Treffen oder Telefonat noch einmal aufzugreifen. Wichtig ist: sachlich und ruhig bleiben. Das ist die beste Voraussetzung dafür, Großeltern dazu zu bewegen, noch einmal in sich zu gehen und ganz genau zu überlegen, wie es früher wirklich war.
Und die gute Seite der Gramnesie ist doch: Beim nächsten Wutanfall können wir uns sagen, dass wir uns in einigen Jahren vermutlich nur noch verschwommen daran erinnern werden, wie anstrengend die ersten Jahre mit Kind wirklich waren. Ein kleines bisschen Gramnesie kann hier und da sicher nicht schaden ...