Hirnforscher stellen fest

Den "Mutterinstinkt" gibt es gar nicht - Warum diese Erkenntnis ein Grund zum Feiern ist

Existiert er wirklich, dieser ominöse Mutterinstinkt? Alles Quatsch, beweist die Hirnforschung! Und diese Erkenntnis ist in Wirklichkeit ein wahrer Segen – für Mütter UND Väter ...

Mutter küsst ihr Baby© iStock/erreperdomo
Den sogenannten Mutterinstinkt kann jeder Mensch lernen.

Es ist so eine Sache mit dem Mutterinstinkt. Wenn er angeblich in jeder Mama schlummert – warum besuchen wir dann alle Geburtsvorbereitungskurse, haben Hebammen, die uns das Stillen erklären und googeln gefühlt jede Kleinigkeit? Müssten wir nicht INSTINKTIV wissen, was richtig ist, wenn es um unser Kind geht?

Keine Frage: Dieser berühmt-berüchtigte Mutterinstinkt sorgt für ganz schön viel Stress. Schließlich sagt er ja durch die Blume: Wir Mamas sind dafür geboren, um uns für unsere Kinder aufzuopfern. Dieser Druck ist einfach riesig und es ist kein Wunder, dass sich viele frischgebackene Mütter Vorwürfe machen, wenn sie Unterstützung brauchen und eben nicht alles wissen und können. Ganz zu schweigen von den Frauen, die (schnell) zurück in den Beruf wollen oder sich nach Ausgleich außerhalb der Familie sehnen. Was für eine Rabenmutter, heißt es da oft.

Der "Mutterinstinkt" will gelernt sein

Ganz klar: Die gesellschaftlichen Erwartungen, die an Mütter gestellt werden, sind gigantisch. Scheitern ist da quasi vorprogrammiert.

Neue Forschungsergebnisse beweisen jedoch: Den angeborenen Mutterinstinkt gibt es gar nicht! "Mutterwerden bzw. Elternwerden ist eine Entwicklung über viele Jahre hinweg. Dies nennt sich Matreszenz oder auch Muttertät“, weiß die dreifache Mutter und Journalistin Annika Rösler, die ein Buch über den Mutterinstinkt geschrieben hat ("Mythos Mutterinstinkt: Wie moderne Hirnforschung uns von alten Rollenbildern befreit und Elternschaft neu denken lässt - Von Muttertät und Matreszenz", Kösel-Verlag, 18 Euro).

Vielmehr entwickelt sich das, was wir Mutterinstinkt nennen, erst nach der Geburt – sowohl bei der Mutter als auch beim Vater. Das Gehirn frisch gebackener Eltern verändert sich – je mehr Zeit man mit dem Kind verbringt, desto tiefgreifender. Das heißt: Kümmert sich beispielsweise der Vater vorwiegend um den Nachwuchs, wird wohl auch er mit der Zeit den stärker ausgeprägten "Mutterinstinkt" haben. "Bei gebärenden Frauen beginnt diese Umstrukturierung bereits in der Schwangerschaft, bei allen anderen mit dem engen Kontakt zum Kind. Diese neurologische Anpassung dient dazu, in unserer neuen Rolle als Eltern anzukommen. Und ja, mit Sicherheit auch dazu, dass wir nachts schlaftrunken unzählige Male stillen/füttern oder leise summend durch die Wohnung tigern", weiß Annika Rösler.

Das heißt: Biologisch gesehen ist die Mutter also nicht automatisch die allerbeste Wahl, um sich um ihr Kind zu kümmern. Denn Elternschaft ist ein Lernprozess, den sowohl Mütter als Väter durchleben müssen. "Schwangerschaft und Geburt sind in gewisser Weise das Warm-up, das vielen Frauen die Entscheidung, für diesen kleinen Menschen da zu sein, erleichtert. Aber auch Mütter brauchen Übung, Zeit mit ihrem Baby und ein entlastendes Umfeld, um in ihrer neuen Rolle anzukommen. Väter müssen sich bewusst dazu entscheiden, eine Bindung aufzubauen und Elternschaft zu lernen", so die Autorin.

Missverständnisse sind historisch gewachsen

Was die Wissenschaftler herausgefunden haben, impliziert im Grunde genommen eine riesengroße Entlastung für alle Frauen. In der Konsequenz bedeuten die Forschungsergebnisse schließlich, dass wir alle ruhig "Rabenmütter" sein dürfen, ohne zu glauben, dass biologisch mit uns etwas nicht stimmt. Denn genau wie Väter auch, müssen Frauen das Elternsein erst lernen und dürfen dabei Fehler machen, an ihre Grenzen kommen und vor allem an ihre eigenen Bedürfnisse denken. "Mit dem Glauben an den Mutterinstinkt überfordern wir tagtäglich die Mütter, indem wir sie direkt nach der Geburt in der klassischen Kleinfamilie schlichtweg alleine lassen. Mutter schafft das schon. Mutter liebt, Mutter opfert sich gerne auf und Mutter weiß alles", sagt Annika Rösler.

Doch woher stammt die Legende vom Mutterinstinkt überhaupt? Während der Recherche zu ihrem Buch sei sie mehrfach wirklich wütend geworden, sagt sie. "Die Geschichte der Mutter beruht zu einem großen Teil nicht auf neutraler Wissenschaft, sondern auf den Überzeugungen einzelner Männer. Über die Jahrhunderte hinweg entstand ein Anforderungsprofil an Mütter, das Frauen noch heute vergebens zu erfüllen versuchen. Mal gab die Kirche den Ton an, mal die Aufklärer, die Philosophen, die Evolutionstheoretiker oder Ärzte und Therapeuten. Aber es waren allesamt Männer, die dieses Mutterbild gezeichnet und die Rechtfertigung für ihr Konstrukt immer wieder im angeblich natürlichen Mutterinstinkt gesucht haben."

Auch die Vaterrolle muss neu gedacht werden

Bis heute leiden die Frauen unter diesem alten Irrglauben – aber nicht nur sie. "Auch die Väter sind Leidtragende, weil sie in gewisser Weise ja doch oft nur die zweite Geige spielen können und sie ohne das Aufbrechen der stereotypen Geschlechterrollen weiter ihre - zum Teil toxische - 'Männlichkeit' leben müssen. Und natürlich betrifft es auch all die anderen Elternmodelle, wie Adoptiv-, Bonus- oder Regenbogenelternschaft, die laut Mutterinstinkt dann ja immer nur die zweitbeste Wahl sein können."

Und mehr noch: "Auch all jene Frauen, die sich bewusst gegen Kinder entscheiden oder ungewollt kinderlos bleiben, leiden enorm. Mit dem Glauben an diesen unumstößlichen, angeborenen Mutterinstinkt sind diese Frauen dann immer irgendwie 'unvollständig'. Was einfach nicht der Wahrheit entspricht."

Eltern zu sein ist wundervoll und schmerzhaft zugleich. Es ist Verzweiflung und Glück und damit der Inbegriff von Gleichzeitigkeiten.

Annika Rösler betont: "Es geht nicht darum, den Müttern Kompetenz abzusprechen. Der Verzicht auf die Idee vom Mutterinstinkt attestiert anderen Menschen vielmehr die Fähigkeit, eine genauso liebevolle und umsorgende primäre Bezugsperson für ein Kind werden zu können. Wir sind alles Individuen. Während die eine Mutter vielleicht etwas mehr Zeit braucht, um sich an ihre Mutterschaft zu gewöhnen, geht es bei einer anderen eben schneller. Manch eine, die ihr Leben lang von Kindern geträumt hat, zieht es schon nach einem halben Jahr wieder zurück ins Büro. Und eine andere Mutter, die auf keinen Fall länger als ein Jahr zu Hause bleiben wollte, verlängert auf eigenen Wunsch nun doch ihre Elternzeit. All diese Entscheidungen sind nicht nur zu akzeptieren, sondern auch zu fördern!"

Denn Frauen seien eben keine "Superheldinnen mit einem angeborenen Mutterinstinkt, die sich für die Gesellschaft aufopfern und irgendwann daran zerbrechen."

Mutterinstinkt – das sagt die Wissenschaft:

In ihrem Buch stützen sich Annika Rösler und Evelyn Höllrigl Tschaikner auf die Forschungsergebnisse der niederländischen Neurowissenschaftlerin Dr. Elseline Hoekzema. Sie ist eine der ersten Forschenden, die Hirnveränderungen in der Mutterschaft bzw. Elternschaft untersuchte, weil sie – selbst Mutter - zu Recht davon ausging, dass es beeindruckende Veränderungen im Gehirn von werdenden Müttern bzw. Eltern gäbe. Auch die Neurowissenschaftlerin Dr. Jodi Pawluski, die das "Mommy Brain" intensiv untersucht, liefert faszinierende Einblicke in das Gehirn der (werdenden) Mütter. "Dank wissenschaftlicher Fakten können wir endlich ein authentisches Bild von Mutter- bzw. Elternschaft zeichnen", so Annika Rösler.

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