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Auf einmal kam er, DER Anruf. Gerade mal zwei Tage vorher hatten Sarah-Christine Boost und ihr Mann den Überprüfungsprozess abgeschlossen, als das Jugendamt anrief und ihnen mitteilte: "Wir haben da ein Kind, das gut zu ihnen passen könnte."
Nach einer Nacht Bedenkzeit war für das Paar klar: Wir wollen es wagen. Wir wollen Pflegeeltern werden.
Zunächst bekamen sie vom Amt viele Informationen zur Geschichte, dem Charakter des Kindes und zur Herkunftsfamilie. "Wir haben auch bereits den Namen erfahren. Fotos gab es mit Absicht hier noch keine, damit unsere Entscheidung nicht zu sehr von Emotionen überlagert wird", erzählt Sarah, die über ihre Erfahrungen ein Buch geschrieben hat ("Ein Pflegekind ist auch (k)eine Option: 12 perfekt unperfekte Familiengeschichten + Expertentipps").
Das erste Treffen war unvergesslich
Schnell folgte das erste Treffen mit der leiblichen Mutter. "Das war für uns ein sehr aufregender Tag und ich habe mir im Vorfeld wirklich viele Gedanken gemacht. Das Gespräch war jedoch sehr angenehm und sowohl die leibliche Mutter als auch wir hatten schnell ein gutes Gefühl. Auch hier: eine Nacht Bedenkzeit, ob es weitergehen soll."
Für Sarah und ihren Mann stand schnell fest: Ja, es soll weitergehen. Das erste Treffen mit ihrer Pflegetochter auf einem Spielplatz wird sie wohl niemals vergessen. "Ich hatte große Sorge davor, wie es weitergehen würde, falls kein Funke überspringt, oder vielleicht nur bei einem von uns nicht."
Doch die Sorge blieb unbegründet: "Als wir das Tor herein kamen, lief das kleine Mädchen schon freudestrahlend auf uns zu und lud uns zum Spielen ein. Es war wirklich Liebe auf den ersten Blick. Von da an hatten wir keine Bedenken mehr."
Kinderwunsch blieb lange unerfüllt
Sarah weiß: "Natürlich entwickeln sich wirkliche Liebe und Bindung erst im Verlauf der Zeit, aber es war von Anfang an ein Gefühl von 'Wir gehören zusammen!" zu spüren. Und das bestätigt sich auch heute noch – in Höhen, wie in Tiefen."
Sarah Pflegetochter ist inzwischen vier Jahre alt, lebt seit etwa einem Jahr bei ihnen.
Dass Sarah einmal Pflegemutter werden würde, hatte sie sich selbst nicht träumen lassen. Hinter ihr liegt ein harter und steiniger Kinderwunsch-Weg. "Ich war Mitte zwanzig, als mir meine Gynäkologin nach einer Krebserkrankung riet, lieber früher als später das Thema Familienplanung anzugehen."
Als sie ihren heutigen Mann kennenlernte, starteten sie das Projekt Wunschbaby. Doch nichts passierte. Selbst Inseminationen und InVitro-Behandlungen blieben ohne Erfolg. Doch dann das Ergebnis: schwanger! "Wir trauten uns gar nicht richtig, uns zu freuen … zu Recht! Abbruch in der 6. Woche. Es folgte ein zweiter Versuch. Ich spürte meine Grenzen, fühlte mich einsam, auch in der Partnerschaft. Ich sagte mir immer wieder 'Ich schaffe das schon!' Doch irgendwann kam ich an einen Tiefpunkt und begann alles in Frage zu stellen. Nach dem zweiten missglückten InVitro-Versuch zog ich für mich eine Grenze."
Langer Prozess des Umdenkens
Die Beziehung zu ihrem damaligen Partner zerbrach. Um ihre Erlebnisse zu verarbeiten, machte Sarah ein "Social Sabbatical" in Lateinamerika. "Ich hatte zwar schon jahrelang davon gesprochen, dass ein leibliches Kind für mich nicht der ultimative Masterplan ist und ich mir durchaus vorstellen könnte, auch ein Kind zu adoptieren, allerdings sagten mir meine Gefühle etwas ganz anderes. Wenn ich davon sprach, brach ich meistens in Tränen aus. Es war wohl eine Mischung aus Ego, das sich nicht eingestehen wollte, nicht alles kontrollieren zu können und gleichzeitig die Trauer, eine intensive mütterliche Erfahrung niemals machen zu können."
Sarah erinnert sich noch genau an den Moment, in dem es "Klick" machte. "Ich saß im Bus von La Fortuna nach Puerto Viejo in Costa Rica und war auf dem Weg zu einer Tierrettungsstation, wo ich sechs Wochen mit verletzten Wildtieren arbeiten sollte. Dabei hörte ich das Hörbuch 'Sorge dich nicht – lebe!' von Dale Carnegie. Die Geschichten in diesem Buch von wirklich dramatischen Schicksalsschlägen und wie Menschen es geschafft haben, aus den 'Zitronen des Lebens' Limonade zu machen. Und dann war der Moment einfach da. Das klingt so super platt, aber auf einmal liefen mir die Tränen über die Wangen und ich fühlte mich endlich so unfassbar frei, weil ich auf einmal merkte, dass da wirklich auch ein anderes glückliches Leben auf mich wartet."
Es war, als hätte sich auf einmal der Nebel vor meinen Augen gelegt und ich sah so klar wie nie zuvor: Vielleicht bin ich mit allem was ich mitbringe, genau dafür gemacht, Kindern ein Zuhause und eine Familie zu schenken, die bisher nicht so viel Glück im Leben hatten.
Pflegeeltern werden – das ist der Ablauf
Zurück in Deutschland nahmen Sarah und ihr neuer Partner Kontakt zum Jugendamt auf. Eine langwierige Überprüfungsphase begann. In regelmäßigen Terminen mit dem Kinderpflegedienst wurden folgende Fragen geklärt:
- Erstellung eines Kinderprofil: Was stellen wir uns vor? Was trauen wir uns zu?
- Motive für die Aufnahme eines Pflegekindes
- Genogrammarbeit: Betrachtung der eigenen Biographie und der daraus resultierenden Muster, die unter Umständen auch zu Dynamiken mit dem Kind führen könnten
- Ressourcenarbeit: Was bringen wir aus unserer jeweiligen individuellen, aber auch unserer Paar-Geschichte an Stärken mit, die uns gut vorbereiten auf ein Leben mit Pflegekind?
- Welche Vorstellungen über eine Rollenverteilung haben wir? Wie sieht es finanziell aus und wie stellen wir uns die Arbeitssituation mit Kind vor?
- Wie sieht unser Umfeld aus? Haben wir Unterstützung von Familie und/oder Freunden?
- Wie sieht unsere Wohnsituation aus? Ist unsere Wohnung geeignet für die Aufnahme eines Pflegekindes?
- Es wurde zudem auch darauf eingegangen, ob der unerfüllte Wunsch nach einem leiblichen Kind ausreichend verarbeitet ist.
Pflegeeltern stehen vor großen Herausforderungen
Vier Wochen lang trafen sie ihre Pflegetochter regelmäßig, bis sie schließlich bei ihnen einzog. Zu diesem Zeitpunkt lebte das damals dreijährige Mädchen bereits seit einem Jahr bei einer Bereitschaftspflegemutter.
Seither ist Sarah Pflegemutter mit Leib und Seele und steht dennoch immer wieder vor großen Herausforderungen und Unsicherheiten. "Wir wissen so zum Beispiel nur einen Bruchteil von dem, was unsere Tochter erlebt hat, bevor sie zu uns kam."
Wie groß der Rucksack von einem Pflegekind ist, kann man also nur erahnen.
"Wir sind also immer wieder mit Verhaltensweisen konfrontiert, die nur schwer einzuordnen sind, weil wir nur Hypothesen anstellen können, woher sie kommen. Liegt bei einem Wutanfall also zum Beispiel ein Trauma zugrunde, ist es eine geistige Beeinträchtigung durch Drogen während der Schwangerschaft, halbwegs normales Autonomieverhalten oder etwas ganz anderes?"
Welche Anforderungen müssen Pflegeeltern erfüllen?
Für die Bewerbung gibt es ein paar formelle Anforderungen:
- Erweitertes polizeiliches Führungszeugnis
- einen persönlichen Lebensbericht, der schon mal einen Einblick in die Biografie und auch Motivation der Bewerber*innen geben soll
- eine ärztliche Bescheinigung, dass man frei von ansteckenden, psychischen und lebensverkürzenden chronischen Erkrankungen sowie von Suchterkrankungen ist
- Ausfüllen eines Fragebogens.
Eine gute finanzielle Basis ist wichtig, da (insbesondere bei sehr kleinen Kindern) häufig gefordert wird, dass die Kinder im ersten Jahr nicht fremdbetreut werden. Da man kein Elterngeld bekommt, sondern "nur" das monatliche Pflegegeld, was etwa 700 bis 800 Euro sind, hilft es, ein finanzielles Polster zu haben.
Die Motive für die Aufnahme sollten gut reflektiert sein, ein Pflegekind sollte so zum Beispiel nicht ein verstorbenes Kind ersetzen, aus Mitleid aufgenommen werden oder primär den eigenen Kindern als Spielgefährte dienen.
Das eigene Bindungsverhalten sowie mögliche eigene Traumata sollten reflektiert sein, um keine destruktiven Dynamiken zu erzeugen.
Es sollte eine stabile Partnerschaft bzw. ein stabiles Umfeld geben, in dem gerade nicht zu viel Stress herrscht. Es ist so zum Beispiel keine gute Idee, ein Kind aufzunehmen, wenn man gerade ein Haus baut, den Job wechselt und noch mit einer chronischen Erkrankung kämpft.
Als Pflegemutter begegnen ihr viele Vorurteile
Und auch mit vielen Vorurteilen hat Sarah zu kämpfen: "Die erste Reaktion ist häufig 'Wow, das könnte ich nicht. Das Kind muss ja irgendwann wieder weg.' Denn viele kennen die unterschiedlichen Modelle von Pflegefamilien nicht. Natürlich wird immer erstmal geschaut, dass ein Kind wieder zurück in seine Herkunftsfamilie kann. Aber es gibt eben auch viele Fälle, in denen die Kinder aus verschiedenen Gründen nicht mehr zurück können und wenn das klar ist, dann kommen erst Dauerpflegefamilien ins Spiel. Auch hier kann es natürlich mal zu einer Rückführung kommen, die so nicht abzusehen war, aber das sind vielleicht in etwa zwei Prozent."
Dennoch würde sie rückblickend einiges anders machen. "Wir sind vielleicht ein bisschen naiv in die ganze Sache reingegangen und haben es auf jeden Fall unterschätzt. Jedes Pflegekind hat mindestens einen schweren Bindungsabbruch erlebt, selbst wenn sie direkt nach der Geburt in die Familie kommen. Und das macht etwas mit Kindern."
Faktisch bringen fast alle Pflegekinder ein irgendwie geartetes Trauma mit. Und das muss gut begleitet werden, damit es einem nicht später (zum Beispiel in der Pubertät) um die Ohren fliegt.
"Es bringt nichts, dass zu tabuisieren oder sich wegzuwünschen, weil man gerne eine 'ganz normale' Familie haben möchte. Ich hätte mich also vorab zum Beispiel gerne mehr mit dem Thema Trauma beschäftigt und ich finde es sehr schade, dass das Thema im gesamten Prozess keine Rolle gespielt hat."
Adoption vs. Pflegekind: Was sind die Unterschiede?
Sarah erzählt: "Als Pflegefamilie hat man einen Anspruch auf Unterstützung und bekommt auch monatlich eine kleine finanzielle Unterstützung. Das gibt es bei Adoption nicht, da ist man mehr oder weniger auf sich allein gestellt mit dem, was da auf einen zukommt.
Als Pflegeeltern muss man jedoch deutlich offener sein, denn man öffnet seine Tür für das Jugendamt, die leiblichen Eltern, Fachkräfte etc. Dafür braucht man eine positive Einstellung dafür, dass auch andere Personen Einblick ins Familienleben bekommen und zum Teil auch mitsprechen dürfen. In unserem Fall hat zum Beispiel die leibliche Mutter noch das Sorgerecht und wir müssen uns zum Beispiel bei der Anmeldung für die Schule oder bei geplanten Operationen ihr Okay einholen. Die Entscheidungen des täglichen Lebens treffen wir jedoch alleine.
Wir haben alle vier bis sechs Wochen Umgangskontakte mit den leiblichen Eltern, alle drei Monate mit den Großeltern (mütterlicherseits), Hilfeplangespräche (nach Bedarf, mindestens einmal pro Jahr), Supervisionen, Pflegeelternseminare, u.a. Also auch unser Kalender sieht ein bisschen anders aus, als der von Adoptivfamilien."
Pflegeeltern sind keine Dienstleister
Welchen Rat würde Sarah allen Paaren geben, die darüber nachdenken, Pflegeeltern zu werden? "Seid mutig, traut euch Fragen zu stellen, erkundigt euch gut nach euren Rechten und fordert diese auch ein. Leider werden Pflegeeltern von einigen Jugendämtern eher als Dienstleister angesehen, wo man einfach ein Kind hinschieben kann und dann ist gut. Ich finde es wichtig, dass sich Pflegeeltern über ihre Rechte informieren und dafür mutig einstehen. Wir sind keine Bittsteller, sondern übernehmen einen wichtige gesellschaftliche Aufgabe, bei der wir ein Anrecht auf Unterstützung haben. Dabei müssen wir es nicht immer allen Recht machen, sondern vor allem für das Wohl unserer Kinder kämpfen. Im Zweifel hilft es, sich da eine unabhängige Beratung und Unterstützung an die Seite zu holen, da gibt es mittlerweile zum Beispiel von Vereinen gute und auch kostenfreie Angebote."
Adoption – aktuelle Zahlen zum Jahr 2023
- Zahl der Adoptionen auf neuem Tiefstand (3.601 Fälle), aber Anteil der
Stiefkindadoptionen auf neuem Höchststand (73 %). - Kinder waren bei der Adoption im Schnitt 5,5 Jahre alt.
- Stiefmütter adoptierten überwiegend Kleinkinder, Stiefväter am
häufigsten Teenager. - Etwa ein Viertel (24 %) der Kinder wurde von Paaren angenommen, in 3 %
aller Fälle waren die Paare gleichgeschlechtlich.
Quelle: DESTATIS/Statistisches Bundesamt