Bitte eine Tochter

Wunschgeschlecht: Warum die meisten Eltern lieber ein Mädchen wollen

Viele Paare haben eine klare Präferenz, welches Geschlecht ihr ungeborenes Kind haben soll. Warum sich immer mehr Eltern ein Mädchen wünschen – und wieso genau das so problematisch ist ...

Frauenhände, die Ultraschallbild auf rosa Hintergrund halten.© iStock/Nature
Ein Mädchen, bitte! Viele werdende Eltern wünschen sich eine Tochter.

Meistens um die 12. Schwangerschaftswoche herum, manchmal auch ein paar Wochen später, ist die Stunde der Wahrheit gekommen. Was bisher eine wage Vorahnung war, bestätigt sich nun im Ultraschall – oder eben auch nicht: Wird es ein Mädchen oder ein Junge? 

Auch wenn es die wenigsten werdenden Eltern zugeben – eine Präferenz haben die meisten. Und die ist laut einer Studie klar weiblich ...

Eine 2023 veröffentlichte Studie ergab, dass in den meisten europäischen Ländern werdende Mütter ein Mädchen bevorzugen. Die Wissenschaftlerinnen Ewa Cukrowska-Torzewska und Magdalena Grabowska von der Universität Warschau untersuchten die Geschlechterpräferenzen von Frauen aus elf europäischen Nationen. Konkret zeigen sie, dass die Wahrscheinlichkeit, kein zweites Kind zu bekommen, steigt, wenn das erstgeborene ein Mädchen ist und damit der Wunsch nach einer Tochter bereits in Erfüllung gegangen ist. 

Warum sich viele Eltern ein Mädchen wünschen

Grund dafür könnten die spezifischen Vorstellungen sein, die Eltern mit den Geschlechtern verbinden, glauben Soziologen. Früher war ein männlicher Stammhalter wichtig, heutzutage sind eher "Soft Skills" gefragt – und die trauen die meistern Eltern eher einem Mädchen zu. Freiwillig mal zu Hause anzurufen oder sich möglicherweise sogar später um die pflegebedürftigen Eltern zu kümmern, das erwarten viele eher von einer Tochter. Mädchen gelten als sozial und emotional intelligenter, werden seltener verhaltensauffällig und sind besser in der Schule. Für viele Eltern sind das – wenn häufig auch unbewusst – trifftige Gründe, auf zwei X-Chromosomen zu hoffen.

"Die Verknüpfung von Weiblichkeit und Care-Arbeit in all ihren Facetten ist nach wie vor stark, also alles was mit sich kümmern, (ver-)sorgen, Kommunikation, Zurückhaltung, Pflege, Haushalt, einer insgesamt sozialen Grundhaltung zu tun hat", bestätigt Almut Schnerring, Journalistin und Autorin ("Die Rosa-Hellblau-Falle"). "Jungen dagegen gelten nach wie vor als wilder, Technik-affin, aber auch rücksichtsloser, egoistischer, insgesamt komplizierter im Umgang. Von Söhnen wird angenommen, dass sie früher unabhängig sind und zu Hause ausziehen (statistisch belegt ist das Gegenteil), während sich Eltern von Töchtern mehr Nähe versprechen, bis ins Alter hinein. Das alles zeigt sich nicht nur im familiären Alltag, sondern auch in Büchern, Filmen und Computerspielen, in der Werbung, der Gestaltung von Freizeitangeboten, Kleidung und Spielwaren, und nicht zuletzt in der Lebensmittelindustrie und eigentlich allen relevanten Lebensbereichen."

Erwartungsdruck bei Kindern

Indem sie schon von kleinauf in bestimmte Schubladen gesteckt werden, geraten Kinder unter Druck, die an sie gestellten Erwartungen zu erfüllen. "Klischees und Vorurteile führen dazu, dass wir Menschen als Teil einer Gruppe betrachten, der wir bestimmte Interessen und Eigenschaften zuordnen, und gehen somit davon aus, dass sich jedes Inidividuum mehr oder weniger so verhält, wie wir das von der gesamten Gruppe erwarten", erklärt Almut Schnerring. "Deshalb sind wir irritiert, wenn dem dann nicht so ist. Und das zeigen wir! Nonverbal oder sogar durch Kommentare - und vermitteln so unserem Gegenüber, dass sie oder er untypisch, irgendwie anders, sei."

Diese ständige Beurteilung kann für Kinder belastend sein. "Es ist menschlich, nicht immer auffallen zu wollen, vor allem Kinder wollen dazugehören, 'richtig' sein, und nicht darauf angesprochen werden, warum sie als Junge lange Haare hätten oder als Mädchen eine andere Lieblingsfarbe als Rosa. Das schränkt Menschen in ihrer Wahlfreiheit empfindlich ein, wie in zahlreichen wissenschaftlichen Studien gezeigt werden konnte."

Geschlechterklischees halten sich hartnäckig

Obwohl Gleichberechtigung und Gendersprache derzeit in aller Munde sind, ist von einem tatsächlichen Wandel bisher noch wenig zu spüren. "Auf der einen Seite erleben wir in der Werbung, in der Gestaltung von Spielwaren und Kleidung, in der Ansprache durch die Lebensmittelindustrie, in vielen Lebensbereichen eine zunehmende Verengung der Rollenbilder und Erwartungshaltungen", so Almut Schnerring. "Auf der anderen Seite sind Eltern und pädagogische Fachkräfte kritischer geworden. Das ist vor allem der Aufklärungsarbeit einiger weniger Initiativen und der damit einhergehenden medialen Berichterstattung zu verdanken, denn politisch ist da leider wenig passiert."

Andere Länder sind in diesem Bereich bereits wesentlich weiter: In Spanien, Frankreich, Großbritannien und einigen anderen Ländern wird die Zuschreibung von Produkten für Mädchen oder Jungen sehr viel kritischer gesehen, in Spanien ist sie sogar komplett verboten. 

"Aber Geschlechtergerechtigkeit lässt sich nicht allein auf der privaten Ebene erreichen, das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, und insbesondere die Unternehmen und ihre Marketingabteilungen, aber auch der gesamte dokumentarische und fiktionale Medienbereich müssen da mitziehen", so die Expertin.

Gender Disappointment vermeiden

Sie rät Eltern, bei sich selbst anzufangen und sich von Genderklischees zu lösen. "Der erste Schritt ist wohl, dass wir uns deutlicher bewusst machen müssen, wie sehr wir selbst durch stereotype Zuschreibungen geprägt wurden. Die wenigsten reflektieren, wie sehr ihre verinnerlichten, engen Rollenbilder nicht nur das eigene Leben, sondern vor allem auch die Erwartungshaltung Kindern gegenüber beeinflussen.“

Das ungeborene Kind auf seine Geschlechtsteile zu reduzieren und damit seine Persönlichkeit zu übergehen, ist auch der wichtigste Grund für Gender Disappointment. Nur wer starre Vorstellungen davon hat, wie Mädchen oder Jungs zu sein haben, läuft Gefahr, enttäuscht zu sein, wenn im Ultraschall nicht das gewünschte Geschlecht zu sehen ist.

"Es löst bei den meisten ein anderes Gefühl aus, wenn sie einen Jungen sehen, der sich liebevoll um seine Puppe kümmert oder Schmetterlinge zeichnet, als wenn es ein Mädchen tut. Und sie reagieren anders auf ein Mädchen, das auf dem Spielplatz das Kommando übernimmt, über einen Graben springt und andere als Feiglinge bezeichnet, wenn die sich nicht trauen. Das passiert meist unbewusst, aber wenn wir nicht weiter darüber nachdenken, nicht kritisch mit uns selbst sind, dann reichen wir genau jene Rollenbilder und Klischees weiter, die wir für überwunden gehalten haben."

Unsere Expertin

Almut Schnerring ist Journalistin und Autorin (u.a. von "Die Rosa-Hellblau-Falle") und Erfinderin des Aktionstags "Equal Care Day". Almut Schnerring lebt mit dem Autor Sascha Verlan und drei gemeinsamen Kindern in Bonn.