Erstaunliche Einblicke

Erziehung bei indigenen Völkern: Wie die Inuit Kinder bei einem Wutanfall bändigen

Bei einem Wutanfall einfach ruhig bleiben und NICHTS tun? Für viele Eltern ist das unvorstellbar. Doch indigene Völker machen genau das – und erzielen damit erstaunliche Resultate ...

Inuit Mutter und Kind.© iStock/RyersonClark
Die Inuit setzen auf Liebe und Gelassenheit.

"Dein Kind tanzt dir ja auf der Nase herum." – "Kinder müssen Konsequenzen erfahren." – "Das Kind muss lernen, dass das Leben kein Ponyhof ist."

Sprüche dieser Art müssen sich viele Eltern anhören, die ihre Kinder bedürfnisorientiert erziehen, also auf Strafen und Schimpfen verzichten. Und natürlich meldet sich bei vielen da schnell ein leises Stimmchen – vor allem, wenn es mal wieder einen Wutanfall zu bändigen gilt: Haben die Kritiker möglicherweise doch recht? Brauchen Kinder vielleicht doch eine harte Hand und Zucht und Ordnung?

Wagen wir den berühmten Blick über den Tellerrand. Wie werden Kinder eigentlich in anderen Kulturen erzogen? Und wie wurde früher – als ja angeblich noch alles besser war – mit Kindern umgegangen? Schnell wird klar: Diese "neumodischen Erziehungsmethoden" sind gar nicht so neu. Die amerikanische Wissenschaftsjournalistin Michaeleen Doucleff hat darüber ein Buch geschrieben ("Kindern mehr zutrauen: Erziehungsgeheimnisse indigener Kulturen. Stressfrei – gelassen – liebevoll", 22 Euro). Die Mutter einer kleinen Tochter bereiste drei Kontinente und lebte in einem mexikanischen Maya-Dorf, in der Arktis bei den Inuit und bei einer Hadzabe-Familie in Tansania. Dort gewann sie erstaunliche Einblicke, wie indigene Völker mit kindlichen Wutanfällen umgehen und wie sie ihre Kinder zu hilfsbereiten und selbstbewussten Menschen erziehen.

Was die Autorin bei den indigenen Kulturen erlebte, ist gar nicht so anders als das, was wir heutzutage bindungsorientierte Erziehung nennen. Die Familien waren weniger streng mit ihren Kindern, als es hierzulande oft üblich ist. Den Umgangston bezeichnet sie als liebevoll. Es gab kein Schimpfen, kein Geschrei, stattdessen Ruhe und Entspanntheit – selbst wenn die Kinder wild herumtobten. 

Ruhe und Gelassenheit stehen an erster Stelle

"Die Eltern werden nie laut, wirklich nie", sagt Michaeleen Doucleff. Denn indigene Völker leben nach der Philosophie: "Schreien wir Kinder an, erziehen wir sie dazu, nicht zuzuhören." Selbst bei Wutanfällen blieben die Menschen gelassen, ließen es auch über sich ergehen, wenn die Kinder um sich schlugen. Erst wenn der Zorn abgeebbt war, belehrten sie die Kinder, wie sie sich verhalten sollen.

Ein intuitiv richtiges Vorgehen, das die moderne Hirnforschung mit Fakten untermauert: Bei Kleinkindern ist das Hirnareal, in dem das rationale Denken sitzt, noch nicht ausgereift. Es ist somit völlig sinnlos, bei einem Wutanfall mit Konsequenzen zu drohen, da Kinder diese Information noch gar nicht verarbeiten können.

Wutanfälle sind völlig normal

"Die Inuit gehen davon aus, dass kleine Kinder leicht wütend werden, weil sie kein 'ihuma' besitzen, keine Vernunft, kein Verständnis. Deshalb besteht kein Grund, wütend zu werden, wenn ein kleines Kind unhöflich ist, einem ins Gesicht schreit oder einen haut. Ein solches Verhalten spiegelt nicht die Kompetenz der Eltern wieder. Es gehört zum Kindsein eben dazu", schreibt Michaeleen Doucleff.

Einen Wutanfall – am besten noch in aller Öffentlichkeit – einfach stillschweigend hinnehmen? Das ist etwas, das sich bei uns die wenigsten Eltern trauen würden. Schließlich will niemand derjenige sein, der sich von seinem Kind auf der Nase herumtanzen lässt ...

Was Michaeleen ebenfalls auffällt: Die Kinder helfen freiwillig mit und selbst die Kleinsten tragen aktiv zum Wohl der Familie bei. Auch seien die Kinder auffallend großzügig und teilten freiwillig ihre Sachen. Was läuft hierzulande also falsch?

Michaeleen Doucleff weiß: Bei indigenen Völkern werden die Kenntnisse um Kindererziehung von Generation zu Generation weitergetragen. Wir hingegen leben in Kleinfamilien, und so sei viel Wissen mit den Jahren verloren gegangen, da moderne Eltern oft auf sich allein gestellt sind. Außerdem hätten wir quasi zwei Welten kreiert: Die Welt der Erwachsenen, bestehend aus Arbeit und Pflichten, und die Welt der Kinder mit Spielplätzen, Zoobesuchen und anderen Spaß-Aktivitäten. Dabei würden sich Kinder am besten entwickeln, wenn sie möglichst viel an der Welt ihrer Eltern teilhaben dürften.

Keine Frage: Die Lebenswirklichkeit der Inuit weicht in großen Teilen von er unsrigen ab. Dennoch lohnt es sich sicher, hin und wieder innezuhalten und sich zu fragen, ob nicht auch uns ein bisschen mehr Gelassenheit bei der Kindererziehung guttun würde ...

Wer sind die Inuit?

Die Inuit sind ein indigenes Volk, das in den arktischen Regionen Nordamerikas und Grönlands lebt. Sie werden auch als Eskimos bezeichnet, obwohl dieser Begriff heute oft als abwertend empfunden wird. Die Inuit haben eine lange Geschichte und Kultur, die eng mit der rauen Natur ihrer Heimat verbunden ist. Traditionell waren sie Jäger und Fischer, die sich an die extremen Bedingungen angepasst hatten. Heute leben viele Inuit jedoch in modernen Städten und Gemeinden und haben sich an die westliche Lebensweise angepasst. Dennoch bewahren sie ihre kulturellen Traditionen und Sprachen und kämpfen für ihre Rechte und den Schutz ihrer Umwelt. Die Inuit sind ein faszinierendes Volk, das uns viel über Anpassungsfähigkeit und Widerstandskraft lehren kann.