Kindliche Emotionen

Warum Weinen für Kinder heilsam sein kann

Warum Eltern Sätze wie "Nun stell dich mal nicht so an!" aus ihrem Kopf streichen sollten, erklärt Psychologin und Pädagogin Dr. Anke Ballmann. Denn: Weinen ist vor allem (aber nicht nur) für Kinder sehr heilsam.

Ein kleines Mädchen weint bei seiner Mutter. © iStock/Antonio_Diaz
Kinder weinen viel häufiger als Erwachsene, völlig normal!

"Ach Mann, nun reiß dich doch mal zusammen!" 

Ganz ehrlich: An diesen Punkt gelangen viele Eltern früher oder später. Ja, wir leiden ganz oft mit, aber sind auch mal gestresst von den scheinbar allzu überschwänglichen Emotionen unserer Kleinen. Denn Tränchen fließen bei kleinen Kindern noch im ganz großem Stil. Bei Verletzungen und Unfällen fällt es uns meist etwas leichter zu trösten, als beim x-ten Wutanfall cool zu bleiben. Sätze wie "Nun stell dich doch nicht so an!" sollten wir uns trotzdem unbedingt verkneifen, genauso wie ein Mit-Ausrasten. Wir sollten uns besser immer wieder verdeutlichen, wie normal und vor allem wie wichtig Tränen für kleine Menschen sind. "Weinen ist eine Form der Stressbewältigung und hilft, emotionale Spannungen zu reduzieren", erklärt Dr. Anke Ballmann. Die Psychologin setzt sich seit vielen Jahren für gewaltfreie Pädagogik ein. Seit fast 20 Jahren leitet sie das von ihr gegründete "Lernmeer – Institut für kindgerechte Pädagogik", bildet dort Fachpersonal fort und hat bereits mehrere Bücher zu diesem Themenumfeld publiziert. 

Weinen ist tatsächlich ein ganz wunderbarer Reparaturservice für unsere Seele. Ausgelöst durch Stress – Das kann vom falsch durchgeschnitten Butterbrot bis hin zum verstorbenen Haustier alles sein! –  werden Tränen produziert und durch den Körper geschickt. Sie enthalten unter anderem Cortisol, das als Stresshormon bekannt ist. Wie clever von unserem Körper! Am Ende bewirkt das Weinen also einen Abbau dieser seelischen Anspannung, indem es die Stresshormone einfach raus spült und durch Glückshormone, die Endorphine, ersetzt, die jetzt freigesetzt werden. Ja, dieses erlösende Gefühl nach einer Heulattacke kennen wir wohl alle. Denn auch bei uns Erwachsenen greift dieser helfende Mechanismus noch. 

Kinder weinen häufiger als Erwachsene

Fakt ist dennoch: Kinder weinen häufiger als Erwachsene. Aber warum eigentlich? "Kinder regulieren ihre Emotionen unmittelbar", erläutert Dr. Ballmann. "Das limbische System, das für Gefühle verantwortlich ist, entwickelt sich langsam. Das bedeutet, der Umgang mit Emotionen ist für Kinder noch sehr schwer. Sie weinen, um Bedürfnisse auszudrücken, da sie oftmals noch nicht die verbalen Fähigkeiten und die soziale Kompetenz besitzen, ihre Gefühle auf andere Weise zu kommunizieren." Genau deshalb ist es so wichtig, schon mit den Kleinsten über genau diese, ob positiv oder negativ, zu sprechen und sie klar zu benennen. "Ich verstehe, jetzt bist du ganz, ganz wütend, weil du den zweiten Schokoriegel nicht auch noch essen darfst!" oder "Ich sehe, dass du traurig bist, weil ich jetzt fahren muss."

No-Go-Sätze: "Alles gut!" und "Stell dich nicht so an!"

Vermeintlich tröstende Sätze wie "Komm schon, ist doch alles gut!" oder "Ist doch nicht so schlimm!" hingegen sollten wir in solchen Situationen lieber vermeiden. Noch schlimmer: "Nun stell dich mal nicht so an!" oder "Reiß dich jetzt zusammen!". Dr. Ballmann möchte Eltern darauf hinweisen, dass es durch solche Aussprüche zu emotionalen Unterdrückungsmechanismen bis hin zu Traumata kommen könne und damit zur Entwicklung von emotionalen Problemen. "Nur ein unterstützendes Umfeld, das die Ausdrucksfreiheit von Emotionen fördert, trägt zur Gesundheit bei", weiß die Psychologin. "Studien zeigen, seelische Dauerbelastungen lösen Entzündungsprozesse im Gehirn aus, schädigen das Immunsystem, und führen häufig zu schweren Erkrankungen im Erwachsenenalter."

Von Löwenzahn- und Orchideenkindern

Übrigens: Kinder, die häufiger weinen als andere, können meist gar nichts dafür, denn sie haben neben äußeren Einflüssen auch eine genetische Veranlagung dazu. "Studien haben gezeigt, dass bestimmte genetische Varianten mit erhöhter emotionaler Reaktivität verbunden sein können", so die Expertin Ballmann. Man nennt diese Kinder auch Orchideenkinder. Die Bezeichnung geht auf die Arbeit von Dr. Thomas Boyce, einem Professor für Kinderheilkunde und Psychiatrie der Universität Kalifornien, zurück. Seit 40 Jahren forscht er zum Thema menschliche Stressreaktionen. Seine Theorie: Etwa zwanzig Prozent der Kinder, die sogenannten Orchideenkinder, sind sehr empfindsam und reagieren stark auf Veränderungen und Reize. Sie stehen den übrigen 80 Prozent gegenüber, den Löwenzahnkinder, die belastbar sind und Stress und Umbruch einfacher bewältigen können. Wichtig: Alle Kinder sind genau so, wie sie emotional aufgestellt sind, richtig! Und auch Orchideenkinder können Stressbewältigungsmethoden erlernen. Sie brauchen dabei nur mehr Zeit und Unterstützung durch ein liebevolles Netz. 

Tränen bei größeren Kindern

Aber was, wenn das Grundschulkind immer noch sehr nah am Wasser gebaut ist und sich dafür sogar schon etwas schämt oder von Mitschülern geärgert wird? Die Pädagogik-Expertin rät zu einer einfühlsamen und offenen Herangehensweise, die dem Kind vermittele, dass manche Menschen einfach emotionaler seien, als andere. Was außerdem wichtig ist, um Gründe und Bewältigungsmethoden zu erforschen:

  • Man sollte immer als Erstes mit dem Kind sprechen, um die Gründe für das Weinen zu verstehen. 
  • Eltern könnten sich bei Lehrern oder Erziehern nach möglichen Problemen in der Schule/Kita erkundigen.
  • Das Selbstbewusstsein des Kindes wird auch durch gemeinsame Aktivitäten, die Freude machen, gestärkt. Vor allem Sport lässt Glückshormonen freien Lauf. 
  • Sicherheit bekommen sensible Kinder durch strukturierte Tagesabläufe. 
  • Bei tieferliegenden Problemen kann ein Kinderpsychologe/Therapeut Unterstützung bieten. Für diesen Schritt ist in der Regel ein Besuch beim Kinderarzt immer der erste Schritt.