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Grenzen setzen ohne Machtkampf: Wie Eltern wirkungsvoll Nein sagen

Viele Eltern stehen vor der Frage: Wann ist es wichtig, dem Kind Grenzen zu setzen – und wann braucht es Freiraum, um eigene Erfahrungen zu machen? Eine Familientherapeutin erklärt, warum klare Grenzen wichtig sind und wie es Eltern gelingt, liebevoll und konsequent zu bleiben. 

Mutter und Sohn liegen auf dem Bett und unterhalten sich.© iStock/PeopleImages
Liebevoll Grenzen setzen, die Kinder auch akzeptieren, ist für Eltern oft eine Herausforderung.

Der Dreijährige schaufelt sich in Windeseile fünf Gabeln voll Nudeln in den Mund, klettert von seinem Stuhl und setzt lautstark sein Spiel fort: Feuerwehreinsatz – mit gelegentlichen Unterbrechungen, in denen er sich noch ein paar weitere Nudeln von seinem Teller stibitzt. Wir Eltern sitzen derweil vor unseren vollen Tellern am Tisch, im Blick die unausgesprochene Frage: Sollen wir uns freuen, dass er sich gerade so gut beschäftigt? Oder darauf pochen, dass er jetzt gefälligst mal am Tisch sitzen bleibt?

Es ist das große Dilemma, vor dem wohl alle Eltern regelmäßig stehen: Eingreifen – oder gewähren lassen? Das Thema Grenzen setzen sorgt wohl in den meisten Familien regelmäßig für Diskussionen. Was dürfen Eltern durchgehen lassen? Und wann ist es wichtig, konsequent zu bleiben? Denn eines ist sicher: Ohne Grenzen geht es nicht. Ohne Verständnis, Einfühlungsvermögen und Freiheiten aber auch nicht. So wird das Durchsetzen von Regeln zu einem ewigen Balanceakt.

Wie wichtig es ist, dass Eltern klare Regeln aufstellen, weiß auch die Familientherapeutin und Autorin Maren Tromm (Elternratgeber "Schluss mit Schimpfen für Dummies"): "An dem Thema Grenzen hängt viel dran. Eigene Prägungen, eigene Wertvorstellungen, der Entwicklungsstand des Kindes, Rahmenbedingungen und vieles mehr." 

Warum Grenzen für Kinder wichtig sind

Es gehört zur normalen Entwicklung dazu, dass Kinder verschiedene Verhaltensweisen austesten. Erreichen sie das gewünschte Ergebnis, verbuchen sie das als Erfolg und behalten das Verhalten bei. Daher ist es wichtig, dass Eltern Grenzen setzen. Denn letztlich werden Kinder dadurch gestärkt fürs Leben.

Grenzen geben Halt und Sicherheit


"Stellen Sie sich vor, Sie fangen einen neuen Job an und keiner sagt ihnen, wann sie wo sein sollen, was sie zu tun haben und so weiter. Wie würden Sie sich wohl fühlen? Überfordert? Nervös? Vielleicht sogar aggressiv? Genauso orientierungslos fühlen sich Kinder, wenn sie keine klaren Grenzen und Anhaltspunkte erhalten“, erklärt Maren Tromm. 

Die Welt ist für sie unberechenbar und unüberschaubar. "Aus Kinderaugen betrachtet ein riesiger Abenteuerspielplatz voller Wunder und neuer Entdeckungen, gleichzeitig aber unübersichtlich und chaotisch. Kinder, die in einer planlosen Umgebung ohne Strukturen aufwachsen, sind meist überfordert. Sie können sich nicht entwickeln und frei ausprobieren, da sie sich stets darum kümmern müssen, Halt zu finden", so die Expertin.

Die Folge: Die Kinder werden unruhig, aggressiv und nervös. "Kinder hingegen, die einen überschaubaren Spielraum haben, können sich besser entwickeln und beschäftigen, denn sie fühlen sich sicherer und müssen sich nicht um ihre Orientierung kümmern. Je kleiner das Kind ist, desto enger dürfen die Grenzen sein."

Grenzen sind wichtig für das soziale Miteinander

Ein anderes Beispiel: "Sie sitzen in einem Café und möchten in Ruhe die Zeitung lesen. Zwei Mütter mit zwei Kindern kommen herein und setzen sich an den Tisch nebenan. Die Kinder sind laut und unruhig. Die Frauen unterhalten sich miteinander, hin und wieder ermahnen sie ihre Kinder, doch etwas ruhiger zu sein. Doch die Kinder werden immer lauter und quengeliger, mit der Zeit stehen sie auf und rennen um den Tisch herum. Dabei stoßen sie an Ihren Tisch, sodass Ihr Kaffee verschüttet und dieser sich über Ihre Zeitung leert. Wie würde es Ihnen gehen, wenn Sie so gestört würden? Wären Sie genervt? Über wen würden Sie sich ärgern? Über die Kinder oder über die Mütter? Ein Café ist ein Ort, an dem verschiedene Menschen zusammenkommen und jeder auf seine Art eine ungestörte Zeit verbringen möchte. Kinder in der heutigen Zeit werden nicht mehr gleichermaßen wie früher an die Gesellschaft angepasst, denn sie sollen selbstbestimmt aufwachsen. Doch für das soziale Miteinander braucht es Grenzen. Zu lernen, dass es nicht nur ihre eigene Welt gibt, ist ein langer Prozess für Kinder. Das geht nur Schritt für Schritt."

Das Setzen von Grenzen und Regeln ist ein unverzichtbarer Bestandteil der Erziehung von Kindern. Es erfordert Zeit, Geduld und Durchhaltevermögen seitens der Erwachsenen. Aber es lohnt sich. Durch das Festlegen von Regeln lernen Kinder, Verantwortung für ihr eigenes Handeln zu übernehmen und die Konsequenzen ihres Verhaltens zu verstehen.

Wie Eltern liebevoll Grenzen setzen

Doch wie finden Eltern die goldene Mitte? Was ist eine gute Balance? Wie merkt man, wann es Grenzen braucht?

"Zu enge und zu viele Grenzen führen zu Machtkämpfen und Lügen, zu wenige Grenzen geben dem Kind keinen Halt und Sicherheit", erklärt Maren Tromm. 

Wenn Eltern sich an den folgende drei Fragen orientieren, klappt das Setzen von Grenzen oft besser: 

  1. Ist der Schutz des Kindes garantiert?
  2. Wird auf die Bedürfnisse der Eltern angemessen und ausreichend Rücksicht genommen?
  3. Besteht die Möglichkeit, dass etwas beschädigt wird?

"Wichtig ist, sich gleichzeitig auch zu fragen, ob das Kind alt genug ist, sich an die Grenze zu halten", so die Expertin. 

In manchen Situationen ist es auch möglich, sich etwas Zeit und Verhandlungsspielraum auszubedingen. "Wenn Sie einmal nicht wissen, wie Sie auf ein Verhalten reagieren sollen, sagen Sie dem Kind, dass Sie im Moment gerade nicht weiterwissen. Sagen Sie ihm: 'Ich komme darauf zurück.' Damit zeigen Sie Ihrem Kind, dass Sie sich Zeit geben, richtig zu reagieren. Das können Sie auch sagen, wenn Sie müde sind und keine Energie mehr haben, etwas auszudiskutieren. Sagen Sie dem Kind: 'Ich bin müde, ich mag das heute nicht mehr besprechen. Lass uns morgen darüber reden.' Das zeigt, dass ein konsequentes Elternverhalten nicht aufgegeben, sondern aufgeschoben wird."

Verantwortung und Vertrauen helfen beim Wachsen

Wichtig ist, dass Eltern ihrem Kind immer wieder Vertrauen in Form von Mitverantwortung entgegenbringen. Denn Kinder brauchen Lerngelegenheiten. "Begeht es eine Grenzüberschreitung, darf diese nicht der Grund sein, ihm in Zukunft keine Verantwortung und Freiheit mehr zu geben. Grenzerfahrungen und Grenzüberschreitungen gehören zur normalen Entwicklung des Kindes", so die Expertin.

Für Eltern kann es hilfreich sein, sich immer wieder in Erinnerung zu rufen, welche Aufgabe sie gegenüber ihren Kindern haben und was Kinder von den Eltern lernen und für sich abschauen. Die folgenden Richtlinien sollten Eltern beim Setzen von Grenzen im Hinterkopf behalten: 

  • Ein Konflikt ist eine Chance zu lernen.
  • Eltern sind Vorbild und Coach.
  • Ein Problem kann gemeinsam gelöst werden.
  • Zuhören.
  • Ruhig bleiben.
  • Bedürfnisse, Grenzen und Erwartungen klar kommunizieren.
  • Verständnis zeigen.
  • Mit Empathie reagieren.
  • Den Teamgedanken vorleben.
  • Miteinander statt gegeneinander.

Was Eltern tun können, wenn Kinder immer wieder ihre Grenzen austesten

Wenn Kinder immer wieder ihre Grenzen testen, haben Eltern je nach Situation und Alter des Kindes ganz unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten. Beispiel: "Wenn ein dreijähriges Kind immer wieder schlägt, teilt uns das Kind damit etwas Wichtiges mit. In der Regel, dass es überfordert oder verletzt ist. Da es noch zu klein ist, um dies konstruktiv und angemessen auszudrücken, kann es hauen als zielführend erkannt haben. Wenn Kinder also immer wieder hauen und damit scheinbar ihre Grenzen austesten, gilt es, das Verhalten und die positive Absicht dahinter zu verbalisieren: 'Das ist aber auch ein schöner Bagger. Du möchtest gern mit dem spielen. Schau mal, das andere Kind auch.' Und im weiteren Verlauf mit dem Kind nach alternativen Ausdrucksweisen suchen. 'Hast du eine Idee, was wir da machen können?'" 


Auch die folgenden Handlungsoptionen können zielführend sein, wenn Kinder immer wieder ihre Grenzen austesten:

Alternativen anbieten

"Gerade kleineren Kinder kann man, wenn sie schon wieder die Blumenerde ausräumen wollen, Alternativen anbieten. 'Ich sehe du spielst gern mit Erde. Komm mit raus, Schatz. Hier hast du Erde und einen Topf.'"

Handeln statt reden

"Fasst einem das Kleinkind immer wieder an die Brille, helfen auch klare und eindeutige wohlwollende Handlungen. Ich setzte das Kind auf den Boden. Also immer, wenn das Kind an die Brille fasst, erlebt es das Gleiche. Sobald das Gehirn des Kindes das verstanden hat, ist es nicht mehr spannend und verstanden."

Nein sagen

"Wenn Kinder fragen, ob sie ein Bier haben dürfen, sagen wir klar nein. In der Regel verstehen Kinder dieses Nein und betteln auch nicht weiter. Wenn es aber hingegen um Süßigkeiten geht, verstehen Kinder sehr wohl, dass es Verhandlungsspielraum gibt. Machen Sie sich klar, was wo gilt und seien sie klar."

Nicht mehr als 8 Worte

"Erklären Sie ihren Kindern nicht alles viel zu lange. Gehirne verstehen klare Ansagen mit acht Wörtern besser. Also 'Schatz, bitte häng deine Jacke auf.' statt 'Jetzt liegt deine Jacke schon wieder hier rum. Wie oft muss ich dir das noch sagen? Immer das Gleiche. Aber was ich dir sage, ist dir ja total egal ...' Hier hat das Kind schon lange abgeschaltet."

Reden

"Handelt es sich hingegen um einen Teenager, der zum wiederholten Mal zu spät nach Hause kommt, könnten Sie freundlich, aber bestimmt an der Tür auf ihn warten und ihm zunächst sagen, dass sie sich freuen, dass er da ist. Punkt. Wichtig ist, dass uns bewusst ist, dass der Teenager uns vermutlich nicht ärgern will und dass er immer von uns lernt. Auch in diesem Moment. Also wie geht man mit einem Menschen um, der sich nicht an Grenzen hält? Schnauzt man ihn an, bestraft oder bedroht man ihn? Oder bleibt man freundlich, klar und konstruktiv. Hier will keiner keinen ärgern – sondern beide Parteien haben Wünsche und Bedürfnisse für die sie einstehen. Diese dürfen sein und brauchen eine gute konstruktive Lösung für das nächste Mal. Und die besprechen wir. 'Sagen wir morgen Abend um 20 Uhr?'"

So lassen sich Machtkämpfe vermeiden

Auch wenn es wichtig ist, dass Eltern darauf achten, dass Grenzen respektiert werden – Machtkämpfe sollten dabei vermieden werden. "Aus Machtkämpfen sollten Eltern wenn möglich sofort aussteigen. Denn aus Machtkämpfen entstehen Gewinner und Verlierer", so Maren Tromm. Gesünder und stressfreier für alle ist es, anzuerkennen, dass Kinder lustorientiert sind. "Das ist gesund und normal. Wenn ein Kind also nicht aufräumt, will es keinen ärgern, sondern schlichtweg den Turm höher bauen.
Sobald Eltern das verstehen und beantworten, entstehen erst gar keine Machtkämpfe." 

Sollte das Kind jedoch dauernd anderer Meinung sein, kann es sinnvoll sein, dem Kind Möglichkeiten zu geben, Macht zu haben. "Auch das gehört zur kindlichen Entwicklung dazu: das Gefühl zu haben, bedeutsam zu sein. Durchzukommen mit seinen Anliegen und Wünschen. Geben Sie Ihrem Kind daher unbedingt dieses Gefühl. 'Möchtest du vor mir oder nach mir die Treppe hochlaufen?' – 'Soll ich heute diese oder diese Uhr anziehen. Du darfst entscheiden.'"