Gesundheitssystem am Limit

Kinderarzt: "Bitte nicht mit harmlosen und banalen Dingen zum Arzt gehen"

Droht in diesem Winter der Kollaps im Gesundheitssystem? Kinderarzt Dr. Steffen Lüder warnt vor dramatischen Zuständen – und nimmt auch die Eltern in die Pflicht ...

Kinderarzt Steffen Lüder© Hannibal Hanschke
Kinderarzt Dr. Steffen Lüder warnt vor einer erneuten Überlastung des Gesundheitssystems.

Kinderstationen am Limit: Die Hilferufe waren schon im vergangenen Winter kaum zu überhören. Überfüllte Krankenhäuser, fehlende Betten, Personalnot – die Lage war regelrecht dramatisch.

Doch was kommt dieses Jahr auf Eltern, Kinder und medizinisches Personal zu? Hat das Gesundheitssystem seine Lehren aus den fatalen Missständen gezogen? Kinderarzt Steffen Lüder hat dazu eine klare Meinung. Er sagt: Nein, es hat sich nichts verbessert. Im Gegenteil: In diesem Winter könnte alles noch viel schlimmer werden ...

"Die Gefahr des Kollapses des medizinischen Systems in der Kinder- und Jugendmedizin ist evident", sagt uns der Kinderarzt, der zu dem Thema ein Buch geschrieben hat ("Who cares? Wie unser Gesundheitssystem das Leben unserer Kinder gefährdet. Notruf eines Kinderarztes"). "Im letzten Winter fehlten uns Klinikbetten und flächendeckendes Pflegepersonal, beide Mängel wurden bis heute nicht behoben. Zunehmend gehen Ärztinnen und Ärzte ohne Nachfolge in den Ruhestand, Eltern suchen händeringend einen neuen Kinderarzt, der entweder weit weg oder schon massiv überlaufen ist. Es gibt mittlerweile 100 freie Sitze für Kinder- und Jugendärzte im Land, aber keine jungen Kolleginnen und Kollegen, die dort arbeiten wollen."

Kinderarzt warnt vor neuen Infektionswellen

Besonders Frühchen und chronisch kranke Kinder sind einem hohen Risiko ausgesetzt, wenn die gesundheitliche Versorgung bröckelt, so Steffen Lüder. "Wenn es wieder so eine RSV-Welle wie im Vorjahr gibt, wenn eventuell ein neuer Grippestamm grassiert, dann werden die Folgen für die Kinder ähnlich gravierend, wenn nicht sogar noch schlimmer werden als 2022. Gesunde Kinder werden ja kaum gegen Influenza geimpft. Letzten Winter hatten wir massive Streptokokkenerkrankungen in den Praxen, wie eitrige Angina oder Scharlach, die Kliniken schwere invasive Streptokokkenfälle. Auch in meiner Ecke starb ein sechsjähriges Kind, für das in Berlin kein Bett zu finden war."

Der Kinderarzt hat bereits selbst miterlebt, wie dramatisch die Zustände in den Krankenhäusern wirklich sind. "Im Dezember 2022, als meine Praxis zu war, hatte ich angeboten, in der benachbarten Klinik in der Rettungsstelle mitzuhelfen. Dort war Land unter. Kinder wurden über Nacht auf Untersuchungsliegen geparkt, weil in Berlin kein Bett frei war. Übernächtigte Eltern daneben. Mit dem Klinikdokumentationsprogramm hatte ich circa halbe Arbeitsgeschwindigkeit als bei mir in der Praxis. Zwei junge Assistenzärztinnen waren völlig am Limit – wären sie heulend gegangen, ich hätte sie verstanden."

Warum traut sich keiner zu sagen, dass eine beschissene Situation eine beschissene Situation ist? Warum Samthandschuhe in diesen Ebenen?

Den Grund für die Missstände sieht er im Kapitalismus: "Betten in Kinderkliniken wurden abgebaut, weil sie sich unter den Fallpauschalen nicht rechnen. Einheimische Medikamentenproduktion wurde ins kostengünstige Asien verlagert, Lieferkettenschwierigkeiten inklusive. Kinderärzte hatten über Jahre ein Honorarbudget, bei dessen Überschreitung nur noch minimal bezahlt wurde." Auch seien die Bedingungen für Praxisübernahmen für junge Ärzte so schwierig, dass viele sich lieber für ein Angestelltenverhältnis entscheiden. Mittlerweile seien über 30 Prozent der Ärzte in Praxen im Anstellungsverhältnis und dies überwiegend in Teilzeit.

Keine Lösungen aus der Politik

"Die Politik verspricht viel, löst aber kaum Probleme, sondern schafft eher neue Schwierigkeiten, zum Beispiel mit der dysfunktionalen Digitalisierung", so Steffen Lüder.

Die Konsequenzen sind bereits jetzt unübersehbar: "Immer mehr Pflegepersonal verlässt die Kliniken oder reduziert die Arbeitszeit, um selbst zu überleben. Immer mehr Ärztinnen und Ärzte haben Teilzeitstellen. Der Krankenstand ist hoch und vergrößert die Lücken in der Versorgung. Praxen reduzieren ihr Betreuungsangebot, wenn der Markt für die Medizinischen Fachangestellten leergefegt ist." Dabei gilt: Je ländlicher die Region, desto schwieriger die Versorgung. "In Großstädten trifft es den Stadtrand und sozial benachteiligte Stadtteile."

Wie Eltern unterstützen können

Können Eltern selbst etwas tun, um die Lage zu entschärfen? Steffen Lüder appelliert: "Bitte nicht mit harmlosen und banalen Dingen zum Arzt gehen: 'Ich will nur mal abchecken lassen, ob ...'. Wenn die Ressourcen der Ärzte und Pflegekräfte in den Kliniken sowie das Personal in den Praxen weiterhin unlimitiert und unbegrenzt genutzt werden darf, was ja unsere Gesundheitspolitiker versprechen, dann bricht das System zusammen. Mit Garantie."

Und noch etwas liegt dem Kinderarzt am Herzen: "90 Prozent der Kinder haben banale Infektionen, die durch einfache Hausmittel und liebevolle Betreuung auch ohne Arztkontakt ausheilen. Bei einfachen Atemwegsinfekten mit Husten, verklebten Augen bei Schnupfen oder ein- bis zweimaligem Durchfall brauchen Eltern mit ihren Kindern nicht wirklich zum Arzt."