Es muss sich was tun ...

Betroffener Vater kritisiert Zustände: "Unsere Kitas haben auch einen Bildungsauftrag!"

Ein Vater aus NRW prangert die Missstände in Kitas an – und spricht damit sicher vielen aus der Seele. Klar ist: So geht es nicht weiter. 

Kind in der Kita weint.© iStock/StockPlanets
Weint ein Kind, bekommt das im Zweifel keiner mit.

Alex Liefermann ist Vater von zwei Söhnen (5 und 15 Jahre). Seit zwei Jahren macht er sich für eine Verbesserung der Situation in deutschen Kitas stark. Die Problematik hat sich jetzt noch einmal zugespitzt, nachdem die nordrheinwestfälische Ministerpräsidentin Josefine Paul angekündigt hatte, den Personalschlüssel in Kitas zu lockern, damit die Einrichtungen bei zu wenig Personal nicht schließen müssen. Doch das kann keine Lösung sein, denn damit können in Engpässen 60 Kinder auf eine Betreuungsperson kommen. 

Wir lassen Alex Liefermann zu Wort kommen und veröffentlichen hier seinen Brief:

Offener Brief eines Vaters

"Sehr geehrte Frau Ministerin Paul, 

eine Erzieherin für 60 Kinder in NRW? Ich bin sprachlos. Betreuung um jeden Preis – auf Kosten von Kindern, Fachkräften und Qualität! Josefine Paul, mit dieser Entscheidung machen Sie alles schlimmer, statt besser. Das ist kein Zustand! Kinder werden nur noch geparkt, und Erzieher:innen werden überladen, anstatt entlastet. Das ist weder menschenwürdig noch respektvoll – es hat nichts mehr mit Bildung oder Fürsorge zu tun. Das, was hier passiert, ist eine Katastrophe für die Kinder, die Fachkräfte und die gesamte Gesellschaft. Ich bin entsetzt! Unsere Kinder, die Zukunft dieser Gesellschaft, verdienen mehr! Sie verdienen nicht nur Betreuung, sondern qualitativ hochwertige Bildung, getragen von den besten pädagogischen Standards. Ihre Ideen sind respektlos – gegenüber den Fachkräften und den Kindern. Das Spiel mit der Menschenwürde der Kleinsten ist beschämend und unverantwortlich."

Lage in Kitas könnte eskalieren

"Als Vater sehe ich die geplante Regelung in Nordrhein-Westfalen, dass eine ausgebildete Erzieherin im Notfall für bis zu 60 Kinder zuständig sein soll, mit größter Besorgnis. Schon jetzt steht die Kinderbetreuung vor enormen Herausforderungen – doch diese Maßnahme würde die Lage in den Kitas endgültig eskalieren lassen.

Kinder brauchen Nähe, Zuwendung und individuelle Förderung. Doch wie soll das funktionieren, wenn sich eine einzige Erzieherin um 60 Kinder kümmern muss? Der Alltag in der Kita ist schon mit einer normalen Gruppengröße oft turbulent. Wenn ein Kind weint, ein anderes auf die Toilette muss und die dritte Gruppe an den Tischen bastelt, ist es schwierig, jedem gerecht zu werden. Mit 60 Kindern wird es schlicht unmöglich.

Was passiert, wenn ein Kind Hilfe braucht oder sich verletzt? Oder wenn ein Kind durch herausforderndes Verhalten mehr Aufmerksamkeit erfordert? Eine Erzieherin allein kann in einer solchen Situation nicht alle im Blick behalten. Das gefährdet nicht nur die Sicherheit der Kinder, sondern auch ihre emotionale und soziale Entwicklung."

Die Qualität der Betreuung würde drastisch sinken

"Eine Kita sollte kein Aufbewahrungsort sein, sondern ein Ort der Bildung und Förderung. Doch unter diesen Umständen wäre an pädagogische Arbeit nicht mehr zu denken. Die Qualität der Betreuung würde drastisch sinken – zulasten unserer Kinder.

Auch für die Erzieher:innen wäre diese Regelung katastrophal. Die Arbeitsbelastung ist schon jetzt enorm hoch, viele Fachkräfte arbeiten am Rande ihrer Belastungsgrenze. Die Aussicht, für bis zu 60 Kinder allein verantwortlich zu sein, ist schlichtweg unzumutbar.

Das Risiko für Burn-out und gesundheitliche Probleme würde dramatisch steigen. Gleichzeitig könnten viele Fachkräfte den Beruf verlassen – ein Beruf, der ohnehin schon unter Fachkräftemangel leidet. Wie soll unter diesen Umständen ein funktionierendes Betreuungssystem aufrechterhalten werden?"

Eltern können dem Betreuungssystem nicht mehr vertrauen

"Ich frage mich, wie Familien bei einer solchen Regelung noch Vertrauen in das Betreuungssystem haben sollen. Schon heute sind viele Eltern skeptisch, ob ihre Kinder in der Kita optimal gefördert werden. Wenn die Betreuung auf diesem Niveau stattfindet, werden Eltern zunehmend gezwungen sein, die Betreuung selbst zu organisieren – eine enorme zusätzliche Belastung.

Die Politik darf nicht länger auf kurzfristige Notlösungen setzen, die das System noch weiter belasten. Es braucht echte Reformen: bessere Bezahlung, mehr Anerkennung für die Erzieher:innen und vor allem mehr Personal. Nur so können wir unseren Kindern die Bildung und Betreuung bieten, die sie verdienen – und den Erzieher:innen die Arbeitsbedingungen, die sie benötigen.

Diese geplante Regelung ist nicht nur ein Rückschritt, sondern ein Risiko für unsere Kinder, die Fachkräfte und das gesamte Betreuungssystem. Als Vater fordere ich die Verantwortlichen auf, diese Maßnahme dringend zu überdenken und den Fokus auf nachhaltige Lösungen zu legen.

Von der Politik hören wir immer geht nicht, wird gestrichen, wird abgeschafft, kein Geld da. Können wir so nicht machen, aber von keiner Politik hören wir Lösungen, eure gegenseitigen Schuldzuweisungen und Reden, die nur auf Zerstörung der anderen Parteien aus sind, helfen uns nicht weiter.

Hendrik Wüst, Josefine Paul, Lisa Paus, und Dorothee Feller: Als Vater habe ich eine Wut, denn das einzige, was zählt, ist das Ego der Politik. Die echten Probleme, die wir in Deutschland haben, interessieren niemanden. Diese Politik ist einfach nur beschämend."

Der geplante Ausbau der Ganztagsbetreuung an Grundschulen kann das Kita-Problem noch verstärken

"Als Vater sehe ich mit wachsender Sorge und Sprachlosigkeit der geplanten Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder ab 2026 entgegen. Die Idee, Familien zu entlasten und die Bildung unserer Kinder zu fördern, klingt in der Theorie lobenswert – doch der Weg, der hier eingeschlagen wird, erscheint schlichtweg unverantwortlich. War man bei dieser Entscheidung wirklich bei klarem Verstand? Angst um die Zukunft: Eine Generation zwischen Verantwortung und Ungewissheit! 

Der finanzielle Druck auf die Städte werde die Ungleichheit im Land weiter verschärfen.  Das Land scheut angesichts leerer Kassen die finanzielle Verantwortung. Die Folgen wälzt es erneut auf die Kommunen ab. Das Geld, das der Bund und das Land für den OGS-Ausbau bisher zur Verfügung stellten wollten, reiche bei Weitem nicht aus.

Schon heute kämpfen unsere Kindertagesstätten mit einem massiven Personalmangel. Erzieher und Erzieherinnen fehlen überall. Die Kitas, die ohnehin schon am Limit sind, sollen nun noch mehr Personal an die Offene Ganztagsschule (OGS) abtreten, um dort dem neuen Bedarf gerecht zu werden. Fachkräfte, die dringend in der frühkindlichen Betreuung gebraucht werden, werden abgeworben, um an Grundschulen eine flächendeckende Nachmittagsbetreuung zu gewährleisten. Das Ergebnis ist absehbar: Kitas und Grundschulen drohen gleichermaßen an einem dramatischen Mangel an qualifiziertem Personal zu ersticken."

Es mangelt an qualifiziertem Personal

"Wie soll das funktionieren? Wo soll dieses zusätzliche Personal herkommen? Mir ist schleierhaft, wie die Politik diesen Rechtsanspruch ernsthaft umsetzen will, ohne vorher die strukturellen Voraussetzungen dafür geschaffen zu haben. Die Rechnung geht einfach nicht auf: Im gesamten Bereich der Kindertagesbetreuung fehlen aktuell etwa 125.000 Fachkräfte. Bis 2026 wird sich diese Zahl voraussichtlich nahezu verdoppeln. Man muss kein Experte sein, um zu erkennen, dass diese Lücke nicht ohne Weiteres gefüllt werden kann.

Es scheint, als ob wir auf eine "Verwahranstalt" zusteuern, anstatt den Kindern wirkliche Förderung, Bildung und echte Betreuung zu bieten. Es ist für uns Eltern, und vor allem für die betroffenen Kinder, fatal, wenn es am Ende nur noch um Zahlen und Plätze geht, aber nicht um die Qualität der Bildung."

"Folgende Konsequenzen zeichnen sich bereits ab

  1. Dramatische Verschärfung des Fachkräftemangels
    Die aktuelle Situation in den Kitas zeigt, wie gravierend der Fachkräftemangel bereits ist – und die zusätzliche Belastung durch den Rechtsanspruch wird diesen Mangel noch verschärfen. Die Ausbildung dauert mehrere Jahre, und eine kurzfristige Aufstockung ist schlicht unmöglich.
     
  2. Abwerbung von Fachpersonal aus Kitas in die OGS
    Die Abwerbung führt dazu, dass in den Kitas noch weniger Personal bleibt, um die ohnehin überfüllten Gruppen zu betreuen.
     
  3. Qualitätseinbußen in der Betreuung und Förderung
    Ohne ausreichende Fachkräfte kann eine gezielte Entwicklungsförderung nicht stattfinden – was der eigentliche Anspruch an die Betreuung wäre. Stattdessen bekommen Kinder nicht mehr, was sie wirklich brauchen.
     
  4. Überlastung und steigende Ausfallquote beim Personal
    Die bestehenden Fachkräfte sind überlastet und werden durch steigende Krankheitsrate und Berufsausstieg dem System entzogen – eine Spirale, die sich immer schneller dreht.
     
  5. Wartezeiten und reduzierte Betreuungskapazitäten
    Familien müssen sich auf noch längere Wartezeiten einstellen, da Plätze aufgrund des Personalmangels eingeschränkt werden müssen. Wo bleibt dann die "Entlastung" für Eltern?
     
  6. Attraktivitätsverlust des Berufs und langfristige Bildungskrise
    Unter solchen Bedingungen wird die Attraktivität des Berufs weiter sinken. Wer möchte sich jahrelang ausbilden, um unter diesen Bedingungen zu arbeiten? Die Folge: eine Bildungs- und Betreuungskrise, die langfristige Auswirkungen auf die Entwicklung unserer Kinder haben wird.

Der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung mag auf dem Papier gut aussehen, doch ohne realistische Rahmenbedingungen, ohne ausreichend Fachkräfte und ohne eine echte Lösung für den Personalmangel droht hier eine Katastrophe. Es ist schlicht unverantwortlich, diese Maßnahmen umzusetzen, ohne die strukturellen Voraussetzungen sicherzustellen."

"Dringende Fragen an Frau Ministerin Paul

  1. Wie lange wollen Sie den Kita-Notstand noch ignorieren, anstatt die drängenden Probleme ernsthaft anzugehen?
     
  2. Welche konkreten Pläne haben Sie, um den wachsenden Fachkräftemangel und die Ressourcenknappheit in den Kitas zu beheben?
     
  3. Wie wollen Sie sicherstellen, dass frühkindliche Bildung nicht weiterhin unterfinanziert bleibt und endlich ausreichend Mittel bereitgestellt werden?
     
  4. Welche Maßnahmen planen Sie, um das Vertrauen der Familien in Ihre Politik zurückzugewinnen und für eine verlässliche Betreuungssituation zu sorgen?
     
  5. Frau Paul, wie erklären Sie sich, dass trotz der wiederholten Versprechen, die frühkindliche Bildung zu stärken, die finanzielle Ausstattung der Kitas weiterhin unzureichend bleibt? Welche konkreten Maßnahmen planen Sie, um sicherzustellen, dass alle Kitas in NRW die notwendige finanzielle Unterstützung erhalten, oder haben sie keine konkreten Maßnahmen? 
     
  6. Kita-Notstand: Wann handeln Sie endlich? Angesichts der Dringlichkeit des Problems: Warum gibt es keine sofortigen Maßnahmen zur Behebung des Personalmangels und der Ressourcenknappheit in den Kitas?
     
  7. In NRW fehlen Tausende Erzieherinnen und Erzieher. Was konkret tun Sie, um den Fachkräftemangel in den Kitas kurzfristig zu beheben, und welche langfristigen Strategien haben Sie, um den Beruf attraktiver zu machen?
     
  8. Wie wollen Sie die Qualität der Betreuung in den Kitas gewährleisten, wenn die Betreuungsquote pro Erzieher und Erzieherinnen so hoch bleibt? Welche konkreten Schritte unternehmen Sie, um die Qualität nicht nur auf dem Papier, sondern endlich auch in der Praxis sicherzustellen?
     
  9. Wir als Eltern fühlen uns durch die unsichere Betreuungssituation allein gelassen. Wie wollen Sie sicherstellen, das wir Eltern in NRW sich auf eine verlässliche und qualitativ hochwertige Betreuung verlassen können?
     
  10. Der Zugang zu frühkindlicher Bildung ist oft abhängig vom Wohnort und Einkommen der Eltern. Was tun Sie, um die Bildungsgerechtigkeit in NRW zu fördern und sicherzustellen, dass alle Kinder unabhängig von ihrer Herkunft die gleichen Chancen erhalten?
     
  11. Die Belastungen im Kita-Bereich haben sich weiter verschärft. Welche Lehren haben Sie aus den letzten Jahren gezogen, und wie wollen Sie das Kita-System in Zukunft krisenfest machen?"

Fürs Wohl der Kinder zu sorgen, sollte an erster Stelle stehen

"Eins ist für mich ganz klar: Unsere erste und wichtigste Verantwortung gilt unseren Kindern. Als ich Vater wurde, erkannte ich, dass Elternsein nicht nur bedeutet, für ihr körperliches Wohl zu sorgen, sondern sie mit Liebe, Werten und Bildung zu stärken. Jeder Moment, den wir mit ihnen teilen, formt ihre Zukunft und spiegelt unsere Verantwortung wider. Der Kindergarten ist der Grundstein für die ganzheitliche Entwicklung eines Kindes. Er fördert nicht nur die kognitive, sprachliche und soziale Kompetenz, sondern lehrt auch Werte wie Empathie, Verantwortung und Zusammenarbeit. Durch die frühkindliche Bildung wird nicht nur die individuelle Entwicklung unterstützt, sondern auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglicht. Darüber hinaus trägt der Kindergarten zur Integration und Chancengleichheit bei, indem er Kindern aus allen sozialen und kulturellen Hintergründen eine gleichwertige Bildung ermöglicht.

Für meine Kinder und die Kinder von uns allen wünsche ich mir, dass wir nicht auf einem Weg sind, der unumkehrbar ist. Es geht um weit mehr als nur unser eigenes Wohlergehen – es geht darum, Verantwortung zu übernehmen und den kommenden Generationen ein Umfeld zu hinterlassen, das es ihnen erlaubt, ihre Träume zu verwirklichen und ein erfülltes Leben zu führen.

Mit besorgten Grüßen,
Alex Liefermann
Elternvertreter"

Lösungsvorschläge

Der Vater und Elternvertreter Alex Liefermann macht folgende konstruktive Vorschläge zur Besserung der Situation:

  • Bezahlter Ausgleich für Kita-Ausfälle für Arbeitnehmer.
  • Gleiche Bezahlung für Erzieher unabhängig vom Träger.
  • Höherer Personalschlüssel und weniger Bürokratie für bessere Betreuung und Bildung.
  • Attraktivere Erzieherausbildung für mehr Interessierte.
  • Kostenlose Ausbildung: Alle Kosten für die Ausbildung, einschließlich Schulgebühren, Lernmaterialien und Prüfungsgebühren, sollten vollständig vom Staat übernommen werden. Dies könnte durch eine staatliche Finanzierung der Fachschulen oder durch Stipendienprogramme erreicht werden.
  • Vergütung während der Ausbildung: Eine Ausbildungsvergütung, die den Lebensunterhalt deckt, ist essenziell, um junge Menschen und Quereinsteiger für den Beruf zu gewinnen. Der Arbeitgeber könnte diese Vergütung zahlen, wobei der Staat Subventionen bereitstellt.
  • Staatliche Anreize für Arbeitgeber: Arbeitgeber, die Ausbildungsplätze bereitstellen, könnten durch Steuererleichterungen oder Zuschüsse unterstützt werden, um die finanzielle Belastung auszugleichen.
  • Verpflichtende Ausbildungskostenübernahme durch Arbeitgeber: Betriebe oder Träger könnten gesetzlich verpflichtet werden, die Ausbildungskosten zu übernehmen, ähnlich wie in dualen Ausbildungsberufen.
  • Förderung von Umschulungen: Quereinsteiger sollten von einer vollständig finanzierten Umschulung profitieren können, einschließlich Unterstützung während der Umschulungszeit.
  • Reduzierung bürokratischer Hürden: Die Organisation und Finanzierung der Ausbildung sollte vereinfacht werden, um den Zugang für mehr Menschen zu erleichtern.
Unser Gastautor
Axel Liefermann

Alex Liefermann, Verfasser des Briefes, den wir hier in gekürzter Fassung veröffentlichen, mit einem seiner Söhne.