
Sexualität ist ein sensibles Thema und oftmals sehr schambesetzt, gerade zwischen Eltern und ihren Kindern. In jeder Generation scheint es immer wieder unvorstellbar, dass die eigenen Eltern jemals Sex hatten! Die Gynäkologin und ÄGGF-Vorständin Dr. Runa Speer gibt Tipps, wie sich Eltern mit ihrem Nachwuchs dem Thema nähern können – und wie es gelingen kann, Mädchen und Jungen gut aufzuklären.
Lieber öfter mit Kindern darüber sprechen
Vorweg: Es muss nicht das eine große Gespräch geben! Viel einfacher ist es, wenn man viele kleine Gespräche darüber führt – immer dann, wenn es sich aus einer Situation heraus gut ergibt. Die wichtigste Voraussetzung dafür: Keine Angst vor einem Gespräch über Sexualität haben! Wir erklären Kindern inzwischen die komplexesten Zusammenhänge – da sollten wir bei Sexualität keine Ausnahme machen, denn spannend ist es doch allemal, wie der Körper funktioniert! Und Sexualität beinhaltet so viel mehr als das, was wir unter "Sex haben" verstehen.
Das "erste Mal" steht an – so unterstützt ihr eure Kinder
Irgendwann ist es so weit: Unsere Kinder sind keine Kinder mehr, sondern werden selbst zu jungen Erwachsenen. Und wollen sich auch in der Liebe ausprobieren. Dr. Runa Speer rät Eltern beim Umgang mit dem Nachwuchs zu:
Dos
- Selbstbestimmung: Ratet eurem Kind im Gespräch: Erst dann Sex haben, wenn du es wirklich möchtest. Dein "Nein" oder "noch nicht" ist absolut okay – jeder Mensch bestimmt sein Tempo selbst. Der/die andere zeigt Reife, wenn er/sie dein Nein akzeptiert.
- Verhütung: Lieber früher (ab zehn bis zwölf Jahre) als zu spät ansprechen! Gut, wenn eure Söhne jemanden in ihrem Umfeld haben, der rechtzeitig Vorteile und Anwendung des Kondoms erklärt. Eure Tochter ist in der gynäkologischen Praxis prima beraten.
Don'ts
- Aufklärungsagenda: Behandelt das Thema nicht dogmatisch, sondern nutzt Anknüpfungspunkte, wenn sich Gespräche ohnehin in diese Richtung bewegen.
- Beantwortet Fragen, so wie sie kommen und baut die Scheu vor dem Thema ab – ohne Zeigefinger oder übertriebene Zurückhaltung.
- Vorbild-Fail: Wer Sex als Tabuthema betrachtet oder selbst kein gutes Verhältnis zum eigenen Körper hat, erzeugt Nachahmung beim Nachwuchs. Stärkt euer Kind in seiner Körperwahrnehmung. Je entspannter ihr mit dem Thema Sex umgeht, desto lockerer kann euer Kind darüber kommunizieren.
Acht Tipps für Gespräche mit Kindern über das "erste Mal"
Tipp #1: Früh übt sich …
Los geht es gleich in den ersten Lebenstagen: Beim Windelnwechseln können Eltern schon Penis und Vulva korrekt benennen. Verniedlichende Bezeichnungen lassen sich zwar anfangs sicherlich noch benutzen, aber seid euch bewusst, dass stete niedliche Umschreibungen auch Scham ausdrücken. Wer gleich korrekt bezeichnet, dass es Hoden und Labien gibt, gibt seinem Kind auch eine Sprache für den Umgang mit den eigenen Geschlechtsmerkmalen. Auch im Kleinkindalter gibt es viele Möglichkeiten, kleine Gespräche darüber in den Alltag einzubauen. Wenn Kinder zum Beispiel in der Öffentlichkeit die Vulva oder den Penis anfassen, dann können die Eltern erläutern, dass das zwar grundsätzlich okay ist (macht ja vielleicht schöne Gefühle und schöne Gefühle sind eben schön und nicht ein Problem), aber dass es ins Private, also nach Hause gehört – und auch dort gibt es einen passenden Ort dafür, wenn man es mit dem Schlafengehen (eigenes Zimmer/Bett) und dem Essen (am Tisch) vergleicht.
Tipp #2: Alters- und entwicklungsgerecht sprechen
Die vielen kleinen Gespräche über den Körper und seine sexuellen Funktionen sind umso hilfreicher, wenn sie lustig sind. Das Reden darüber darf auch Spaß machen! Wichtig: Begleitet euer Kind mit Gesprächen bei seiner Reise zum Erwachsenwerden und passt die Art und Weise immer wieder dem Alter und Entwicklungsstand eures Kindes an. Besonders bis zum Alter von neun bis zehn Jahren interessieren sich Kinder dafür, wie das Baby in den Bauch kommt, wie es dort isst und trinkt oder wie eine Geburt funktioniert. Solche Fragen könnt ihr kurz und knapp beantworten und dabei auch mit euren Erinnerungen an die Geburt eures Kindes verknüpfen – Kinder lieben es, Geschichten aus ihrer eigenen Vergangenheit zu hören. Über Erwachsenen-Sexualität und Lust braucht man mit Kindern in diesem Alter nicht zu sprechen.
Tipp #3: Dinge ansprechen, bevor sie akut werden
Im Grundschulalter ist erstes Verliebtsein oft schon ein Thema. Das könnt ihr aufgreifen und ganz entspannt mit eurem Kind überlegen, wie sich das anfühlt, ohne überhaupt über Sex zu sprechen. Geschlechterrollen sind in der Grundschule meist ebenfalls schon ein Thema.
Grundsätzlich gebt ihr eurem Kind wertvolle Sicherheit, wenn es schon über Dinge Bescheid weiß, bevor sie eintreten: Über die Veränderungen in der Pubertät solltet ihr deshalb miteinander im Gespräch sein, bevor es losgeht. Das gilt auch für Verhütung. Lieber früher (ab zehn bis zwölf Jahre) als zu spät ansprechen! Umso besser, wenn Söhne jemanden in ihrem Umfeld haben, der ihnen rechtzeitig Vorteile und Anwendung des Kondoms erklärt. Dies kann unterstützend auch die kinder- und jugendärztliche Praxis sein. Eure Tochter ist hierzu in der gynäkologischen Praxis prima beraten. Übrigens keine Sorge, dass euer Kind dann früher Sex hat! Studien zeigen eindeutig, dass frühzeitige Aufklärung nicht zu früherer Aufnahme von sexuellen Beziehungen führt.
Tipp #4: Für das Beachten eigener Bedürfnisse sensibilisieren
Wenn Eltern ihren Kindern unabhängig vom Thema Sex vermitteln, dass Selbstbestimmung wichtig ist und diese auch zulassen, so lässt sich dieses Prinzip auch auf "das erste Mal" übertragen. Vermittelt eurem Kind: Höre auf deine innere Stimme! Sagt sie dir "Ja, das fühlt sich richtig an, derjenige/diejenige soll es sein", dann ist es ein Ja-Gefühl und eine wichtige Grundlage für die Entscheidung über den ersten Sex. Sagt die innere Stimme aber eher "Nein" oder "noch nicht", so ist das absolut okay – jeder Mensch bestimmt sein Tempo selbst, nicht Peergroup oder Partner*in. Akzeptiert der Partner/die Partnerin dieses "Nein", so beweist sie/er mit dieser Rücksichtnahme Reife und Respekt.
Tipp #5: Entspannt euch!
Über Sexualität zu sprechen, geht meist leichter, wenn man selbst ein gutes Verhältnis zu seinem Körper hat. Kinder spüren sofort, wenn Eltern einen großen Bogen um ein Thema machen – sie übernehmen dann in gewissem Maß dieses Vermeiden und die Scham ihrer Eltern. Doch selbstverständlich dürft ihr als Eltern erst mal tief durchatmen und euch ein bisschen Zeit nehmen: "Da muss ich jetzt selbst mal ein bisschen überlegen!" Und ihr müsst fundierte Informationen nicht allein aus euch heraus generieren. Holt euch Unterstützung aus dem Internet oder ordert geeignete Printmaterialien zur Veranschaulichung. Es gibt zahlreiche gute Angebote, die viele Facetten des Themas interessant, unterhaltsam und informativ aufbereiten. Wenn ihr mögt, werft einen Blick auf doctorial.de oder schaut euch die Tutorials "@DOCtorial" auf "Youtube" an. Heranwachsende finden hier verlässliches Wissen verständlich erklärt zu Fragen rund um Körper, Geschlecht, Sexualität, Verhütung und vieles mehr.
Tipp #6: Keine Vogel Strauß-Politik!
Viele Eltern haben vielleicht selbst keine positive Erfahrung bei der eigenen Aufklärung gemacht und haben daher auch kein Vorbild oder beispielhaftes Handeln erlebt. Wer deshalb solche Gespräche hinauszögert oder wartet, bis Fragen von den Kindern kommen, der braucht sich nicht zu wundern, dass ihnen oftmals gar keine Fragen mehr gestellt werden, weil die Kinder sich ihre Informationen längst woanders suchen – dann allerdings mit fragwürdiger Verlässlichkeit der Antworten. Das Schweigen der Eltern signalisiert dem Kind nämlich: Sprich mich nicht an – Sex ist mir unangenehm! Das mag vielleicht bequem für diese Eltern sein, bedeutet aber definitiv keine Unterstützung fürs Kind. Im Internet, durch die Medien und die Werbung kommen Kinder früh und leicht in Kontakt mit dem Thema Sex. Allerdings wird der größte Teil der Zeit dort mit Chats, "Tiktok", Influencer*innen oder auch Pornos verbracht, die allzu oft fragwürdige Vorstellungen von Sexualität und Rollenbildern in den Köpfen der Heranwachsenden entstehen lassen. Wenn Sexualkunde in Form von Pornokonsum stattfindet, liegen die Folgen für die/den Einzelne(n) und unsere Gesellschaft auf der Hand ...
Tipp #7: Medienkompetenz und Aufklärung gehören zusammen!
Einzelmeinungen von Influencer*innen oder "Tiktok"-Filme geben Trends vor, die meist jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehren. Beispiel Hormonangst: Die Verhütungsoption "Pille" wird von Jugendlichen und jungen Frauen durch die im Netz kursierenden Überzeugungen bereits verworfen, bevor sie sich fachlich dazu beraten ließen – und das, obwohl hormonelle Kontrazeptiva (Empfängnisverhüter) für viele eine geeignete Methode darstellen würden, die hohe Verhütungssicherheit bietet und oft sogar therapeutisch sinnvoll wäre. Sprecht mit eurem Kind darüber, nicht jeden Post beliebter Influencer*innen unreflektiert für richtig und wahr zu halten. Und auch, wenn ihr das Smartphone eures Kindes überwachen solltet, so gibt es doch immer jemanden, der an der Bushaltestelle oder auf dem Schulhof "etwas Krasses" herumzeigt. Bereitet euer Kind auf solche Situationen vor: "Es kann sein, dass du plötzlich Bilder siehst, die dir Angst machen oder dich verwirren. Das ist nicht deine Schuld. Dann kannst du immer zu uns kommen und wir helfen dir." Ein einfacher Tipp für jüngere Kinder ist: "Dreh das Handy um, wenn dich etwas verstört, egal ob es um Sex oder Gewalt geht."
Tipp #8: Aufklären heißt Eigenverantwortung fördern
Macht euch klar, dass das Wissen zu eigenen Organen und Abläufen im Körper einen großen Schutzfaktor darstellt. Nur, wenn ich über meinen Körper und über Sexualität Bescheid weiß, kann ich auch ableiten, was okay ist und was nicht, worauf ich Rücksicht nehmen sollte, wann ich Hilfe brauche oder was ich ärztlich abklären lassen sollte. Diese Handlungskompetenz ist eine wichtige Grundlage für die zukünftigen Beziehungen und (Sexual-)Kontakte der eigenen Kinder. Nur wer seinen Körper mit seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen gut kennt, und gleichzeitig auch mit den Eigenheiten des anderen Geschlechts vertraut ist, kann seinen Körper und den anderer schätzen und schützen lernen.
... Dr. Runa Speer ist Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe und hat viele Jahre in Praxen und verschiedenen Kliniken sowie in der klinischen Forschung gearbeitet. Als Vorständin der gemeinnützigen Ärztlichen Gesellschaft zur Gesundheitsförderung (ÄGGF) e. V. setzt sie sich für Gesundheitsbildung ein – denn was ist besser, als über den Körper Bescheid zu wissen und eine vermeidbare Erkrankung oder eine ungewollte Schwangerschaft gar nicht erst entstehen zu lassen?
Seit mehr als zehn Jahren besucht sie Schüler*innen ab der 4. Klasse und bringt Gesundheitsbildung ins Klassenzimmer: Sie spricht mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen über Liebe, Sexualität und Gesundheit und hilft dabei, den Körper zu verstehen und Veränderungen einzuordnen. Mehr Infos unter aeggf.de
Foto: Andrea Juettner-Lohmann, coranoir.de