
Als ich Sylvia telefonisch erreiche, ist sie gerade unterwegs, um ihre jüngsten Zwillingsjungs von der Schule abzuholen. Eine Fahrt von 50 Kilometern, während der sie Zeit hat zum Reden. Ihre Söhne Ole und Oskar sind krank, müssen eine spezielle Förderschule besuchen. "Sie kamen in der 24. Woche zur Welt und waren Extremfrühchen", erzählt Sylvia. "Ole hat eine Entwicklungsverzögerung und eine körperliche Behinderung aufgrund von Sauerstoffmangel. Inzwischen ist er jedoch trotz seiner Beinspastik ein guter Läufer."
Die beiden Neunjährigen müssen regelmäßig zur Physio- und Ergotherapie. Beide haben ADHS, Oskar leidet dazu auch unter Autismus. "Er ist ein richtiges Sorgenkind", sagt die 46-Jährige.
Gerade erst erhielt Sylvia von der Schule den Anruf, von dem sie gehofft hatte, er würde ihr erspart bleiben. "Ich habe erfahren, dass beide Kinder auf eine andere Schule müssen, weil sie das Bildungsniveau nicht mehr schaffen. Jetzt muss ich ihnen beibringen, dass sie nach den Sommerferien wechseln müssen, auf eine Schule für geistig Behinderte. Die Endstation der Schulen. Mir bricht es echt das Herz als Mutter. Das Leben hat wirklich saublöde Herausforderungen für mich.“ Nur einer von vielen Rückschlägen, die Sylvia in der Vergangenheit erleben musste ...
Anfang des Jahres erlebte Sylvia einen Schicksalsschlag
Dabei hat ist sie als Mutter von drei Zwillingspärchen Herausforderungen gewohnt. Ihre ältesten Zwillinge, Leonie und Leander, sind bereits 26 und längst aus dem Haus. Auch die mittleren, Enna und Emilian, haben bereits eine eigene Wohnung. Emilian hat gerade Abitur gemacht, wie Sylvia stolz erzählt. Ruhig ist es dadurch bei Sylvia dennoch nicht. "Die großen Kinder sind täglich da. Die Türen bei Mama sind immer offen. Sie unterstützen mich auch viel", sagt sie.
Unterstützung, die sie gerade dringend nötig hat. Denn Anfang des Jahres erlebte Sylvia einen schweren Schicksalsschlag. Ihr Ehemann, von dem sie getrennt lebte, nahm sich im Februar das Leben. Eine Tragödie, über die sie ungern spricht. "Ich bin Witwe geworden, obwohl ich mich scheiden lassen wollte. Ich stand ohne finanzielle Absicherung da. Ich konnte nur vom Pflegegeld der Kinder leben", sagt sie.
Auch Monate später kämpft Sylvia gegen die Bürokratie. Eine scheinbare ausweglose Situation. "Ich stecke noch immer in einem riesengroßen Behördendschungel. Alle Anträge zu stellen, ist eine gewaltige Hürde", erzählt sie. "Dabei ist mein Alltag durch zwei behinderte Kinder bereits komplett ausgefüllt." Für den Papierkram und alle anderen alltäglichen Erledigungen bleibt ihr nur der Vormittag. Nachmittags brauchen die Kinder ihre volle Aufmerksamkeit. "Mit Oskar kann ich nicht mal einkaufen gehen, weil er sofort reizüberflutet ist."
Die finanziellen Sorgen sind groß
Noch immer ist nicht klar, wovon sie mit ihren Kindern leben wird. "Ich weiß nicht, wie viel Geld wir bekommen werden. Gefühlt kenne ich von Wohngeldstelle über Bürgergeldstelle bis zu Versicherungen fast jede Behörde. Es ist ein Rattenschwanz", sagt sie.
Derzeit lebt sie von Witwen- und Halbwaisenrente sowie Pflegegeld. "Die Kinder haben Pflegegrad vier, doch das Geld ist ja eigentlich für Hilfsmittel gedacht", erklärt Sylvia ihr Dilemma.

Ihren Job gab sie vor drei Jahren auf, und eine neue Stelle zu bekommen, ist in ihrer Situation alles andere als einfach. "Ich muss erstmal einen Arbeitgeber finden, der mich einstellt. Ich würde wahnsinnig gern arbeiten. Aber wir haben auch viele Facharzttermine. Die wenigsten Eltern mit behinderten Kindern können berufstätig sein."
Die Suche nach einem Therapieplatz ist aussichtslos
Durch den Tod des Vaters sind ihre Söhne schwer traumatisiert. "Oskar macht sich viele Gedanken, ob er den Papa mehr hätte besuchen sollen. Die Zwillinge haben bis heute wahnsinnige Verlustängste. Und sie spüren meine Sorgen." Auf einen Therapieplatz für die Jungen wartet Sylvia bis heute vergebens. "Das Kinderhospiz unterstützt Kinder, die Eltern verloren haben, psychologisch, und dafür sind wir sehr dankbar. Aber das reicht nicht aus", sagt Sylvia.
Auch sie selbst hat die Ereignisse noch lange nicht verarbeitet. Am Abend vor unserem Telefonat musste Sylvia in die Notaufnahme, ihr chronisches Magengeschwür bereitete ihr große Schmerzen. Das MRT sei auffällig gewesen, sagt sie. Doch Zeit zum Ausruhen hat sie nicht – auch nachts nicht. "Ein Hauptmerkmal von Oskars Behinderung ist, dass er nur im Zwei-Stunden-Takt schläft. Er schläft ganz schwer ein und nie durch, er ist alle zwei Stunden wach, auch in der Nacht." Eine große Belastung für Sylvia. "Ich habe dadurch inzwischen schon schwere Schlafstörungen entwickelt", sagt sie.
Hinzu kommen die Zukunftsängste. "Die Kinder hatten Schulden geerbt, und es war ein riesiges Prozedere, das Erbe auszuschlagen", erzählt sie. Offene Forderungen kommen dennoch bis heute von allen Seiten. Besonders bitter: "Ich sitze auf den Beerdigungskosten – ich stand ja in der Bestattungspflicht als Witwe."
Sylvia bleibt optimistisch
Nun steht Sylvia ein weiterer großer Kampf mit den Behörden bevor. "Unser gemeinsames Haus geht an den Staat und wird versteigert", sagt sie. "Das sind alles emotionale Dinge, die man da durchleben muss."
Woher Sylvia die Kraft für all das nimmt, weiß sie manchmal selbst nicht. Ohne Freunde und Familie wäre sie verloren, sagt sie. "Ich bin psychisch total stabil, und trotzdem ist es ein enormer Kraftakt. Ich dachte, es muss doch irgendeine Stelle geben, an die ich mich wenden kann, die mir hilft, aber nein. Auch vom Jugendamt bekomme ich keine Unterstützung."
Doch ihr bleibt nichts anderes übrig als weiterzukämpfen – für ihre Kinder. "Die Miete muss bezahlt werden", sagt sie.
Ihren Optimismus hat Sylvia trotz allem nicht verloren.
Ich bin dankbar, dass ich eine gute medizinische Versorgung für meine Kinder habe. Andere Familien haben es noch viel schwerer, da muss ich demütig und dankbar sein.
In diesem Moment biegt Sylvia auf den Parkplatz der Schule. Sie muss auflegen, ihre Jungs in Empfang nehmen. Ob sie mir noch sagen könne, was sie sich für die Zukunft wünscht, frage ich. "Ein ruhiges, geradeaus laufendes Leben", antwortet sie. "Obwohl meine Freundinnen sagen, das wäre doch total langweilig", schiebt sie noch hinterher und lacht. Ja, Sylvia hat eindeutig mehr von allem bekommen – und eben auch mehr Kampfgeist.