
Freilandhaltung für Kinder – das bedeutet Free Range-Erziehung in etwa im Deutschen. Allein der Begriff lässt vor dem inneren Auge Bilder entstehen – von Kindern, die in Gummistiefeln in Matschpfützen pütschern. Die in der Natur butschern, Hühner jagen und auf Bäume klettern. Die eben frei sind. Was in diesem Bild nicht auftaucht: Eltern, die ihnen den Schmutz von den Klamotten klopfen und laufend vor den Gefahren warnen.
Eigentlich klingt Free Range-Erziehung verdächtig nach dem, wie wir früher selbst aufgewachsen sind. Damals in den 80ern und 90ern, als wir nach den Hausaufgaben zum Spielen rausgingen und erst zum Abendessen wieder zu Hause auftauchten. Was die Kinder in der Zeit dazwischen taten, davon bekamen die Eltern nichts mit. War das nun nachlässig – oder war es die bessere Erziehung?
Heutzutage ist das gegenteilige Extrem verbreitet. Eltern, die ihr Kind bis zur Schule mit dem Auto bringen. Eltern, die ihre Kinder keine Sekunde aus den Augen lassen. Die jedes Risiko und jede Schwierigkeit aus dem Weg räumen. Die verschrienen Helikopter-Eltern eben.
Was ist Free Range-Parenting?
Wer auf Free Range-Erziehung setzt, handelt nicht nachlässig oder verantwortungslos. Vielmehr geht es darum, Kindern die Freiheit zu geben, eigene Erfahrungen zu machen und dabei auch Rückschläge oder Niederlagen zu erleben. Der Gedanke hinter dem Erziehungsstil ist, Kindern zu ermöglichen, die Kompetenzen aufzubauen, die sie im späteren Leben brauchen, um mit Problemen und Herausforderungen umzugehen. Damit sie widerstandsfähig werden.
Dabei gibt es keine klaren Antworten darauf, in welchem Alter ein Kind für bestimmte Meilensteine bereit ist. Eltern müssen sorgfältig abwägen und die individuelle Reife ihres Kindes berücksichtigen, wenn sie vor folgenden Fragen stehen:
- Wann darf mein Kind allein zur Schule gehen?
- Wann darf es allein nach draußen gehen?
- Ab welchem Alter darf es allein zu Hause bleiben?
- Wann darf es zum ersten Mal allein verreisen?
Die Idee hinter der Free Range-Philosophie ist es, Kindern die Fähigkeiten zu vermitteln, die sie brauchen, um sich allein in der Welt zurechtzufinden.
Warum Kinder heutzutage weniger Freiheiten haben
In den letzten ein oder zwei Generationen hat sich die Erziehung grundlegend verändert. Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum einen hängt es mit den sich verändernden Medien zusammen: Der News-Strom fließt unermüdlich 24 Stunden pro Tag und versorgt Eltern mit Nachrichten, die sie ängstlicher werden lassen. Zudem machen es Smartphones einfacher, Kinder zu überwachen.
Dadurch entsteht der Glaube, dass durch genügend Aufmerksamkeit eine 100-prozentige Sicherheit des Kindes gewährleistet werden könne.
Doch: Werden Kinder von allem, was sie verletzen könnte, abgeschirmt, laufen sie Gefahr, im späteren Leben weniger resilient zu werden. Wer in der Kindheit permanent beschützt und von jemandem begleitet wird, der einem sämtliche Umbequemlichkeiten aus dem Weg räumt, wird auch später wahrscheinlich Probleme haben, mit schwierigen Situationen umzugehen.
So funktioniert die freie Erziehung
Zeit zum freien Spiel
Ein Blick in die Tierwelt zeigt: Alle Tierbabys lieben es, wild und frei herumzurennen, fangen zu spielen und die Natur zu entdecken. Sie sitzen nicht den ganzen Tag neben ihrer Mutter und lauschen ihren Ratschlägen. Und das hat einen guten Grund: Wenn Tierkinder ohne Eltern spielen, lernen sie, allein zurechtzukommen. Und was für die Tierwelt gilt, gilt auch für Menschen. Auch wir werden mit einem Spieltrieb geboren, der dafür sorgt, dass wir Neues ausprobieren – und dabei auch herausfinden, wie wir mit schwierigen oder beängstigenden Situationen zurechtkommen. Beim Spielen sind Kinder in jeder Hinsicht aktiv – körperlich und geistig. Das Gehirn arbeitet quasi auf Hochtouren. Sobald das Spiel langweilig wird, lassen sie sich etwas Neues einfallen. All das ist entwicklungsfördernd.
Raus in die Natur
Unter freiem Himmel gibt es für Kinder am meisten zu entdecken und die besten Möglichkeiten für freies Spiel, das ohne Technologien und ohne Anleitung durch Erwachsene auskommt. Durch das Spielen mit Naturmaterialien wird die Kreativität angeregt, und Kinder können ihrer Fantasie und ihrem Bewegungsdrang freien Lauf lassen.
Schwierigkeiten allein bewältigen lassen
Kinder bauen durch das regelmäßige Lösen von Problemen Kompetenzen auf. Dadurch eignen sie sich einen Erfahrungsschatz an, auf den sie im späteren Leben zurückgreifen können. Den Prinzipien der Free Range-Erziehung zufolge übernehmen Eltern eher die Rolle eines Rettungsschwimmers, der nur in echten Notfällen eingreift. Die Idee fürs Spiel finden die Kinder eigenständig, und auch kleine Streitigkeiten untereinander klären sie selbst. Sind Eltern hingegen ständig präsent, werden die Kinder unbewusst gelenkt. Indem sich die Erwachsenen jedoch zurückziehen, lernen Kinder, zusammenzuarbeiten, untereinander zu kommunizieren und sich zu tolerieren.
Erziehung ohne Angst
Klar, bestimmte Sicherheitsmaßnahmen gehören einfach dazu – zum Beispiel, dass beim Fahrradfahren ein Helm getragen werden muss. Doch Free Range-Eltern wägen zwischen geringen und hohen Risiken ab und schirmen ihre Kinder nicht vor allen Gefahren ab. Kleine Risiken einzugehen – wie zum Beispiel auf dem Klettergerüst bis ganz nach oben zu kraxeln – und neue Dinge auszuprobieren, hilft Kindern dabei, die eigenen Interessen und Talente herauszufinden. Free Range-Eltern wissen, dass ein gewisses Risiko nun mal zum Leben dazugehört und dass es keine absolute Gewissheit gibt.
Quelle: parents.com,freerangekids.com