Mädchen mit XY-Chromosomen

Mädchen mit XY-Chromosomen: "Meine Tochter ist genetisch ein Junge"

Während der Schwangerschaft erfuhr Nancy, dass sie ein Mädchen mit XY-Chromosomen erwartet. Was diese Diagnose bedeutet und wie die Familie damit umgeht, erzählt sie in diesem Artikel. 

Nancy Wienberg mit Mandy-Malia.© Privat
Die kleine Mandy-Malia ist mit XY-Chromosomen zur Welt gekommen.

Mandy-Malia schlummert selig bei ihrer Mutter in der Trage. Alles um sie herum ist rosa – ihr Strampler, das Tragetuch, ihr Mützchen. In ihrem Fall ist rosa mehr als nur die typische "Mädchenfarbe", die viele Eltern für ihre Tochter wählen. Es ist ein Bekenntnis, ein Jetzt-erst-recht, ein Trotzdem. 

Mandy-Malias Geschichte ist kompliziert. Äußerlich betrachtet ist sie ein Mädchen. Und dennoch trägt sie die XY-Chromosomen – hat also männliche Gene. 

"Wir haben in der Schwangerschaft einen NIPT-Test machen lassen. Im Rahmen dessen konnte man das Geschlecht mitbestimmen lassen. Herauskam: Junge", erzählt uns ihre Mutter Nancy Wienberg. 

Die Familie freute sich auf den kleinen Bruder für ihren zweijährigen Sohn – bis die Frauenärztin beim nächsten Ultraschall eine Auffälligkeit feststellte. "Sie sah ein Mädchen", erinnert sich die 41-Jährige. "Wir gingen von einem Fehler im Labor aus, also wiederholten wir den Test – mit demselben Ergebnis. Zweimal wurden wir zur Feindiagnostik geschickt. Immer war im Ultraschall ein Mädchen zu sehen."

Was ist der NIPT-Test?

Der NIPT-Test (Nicht-Invasiver Pränataltest) ist ein Bluttest für Schwangere, der ab der 10. Schwangerschaftswoche durchgeführt werden kann. Er dient dazu, das Risiko für bestimmte Chromosomenstörungen beim ungeborenen Kind, wie z.B. Trisomie 21 (Down-Syndrom), Trisomie 18 (Edwards-Syndrom) und Trisomie 13 (Pätau-Syndrom), zu bestimmen.

Im mütterlichen Blut befinden sich auch DNA-Fragmente des Kindes. Diese werden beim NIPT-Test analysiert. Der Test kann nicht alle Chromosomenstörungen erkennen, aber er ist sehr zuverlässig bei der Erkennung der häufigsten Trisomien.

Was XY-Chromosomen bei Mädchen bedeutet

Recht schnell war klar, dass ihr Kind als Mädchen mit XY-Chromosomen zur Welt kommen wird. Was das konkret für Mandy-Malia bedeutet, wird sich erst in den kommenden Jahren zeigen. 

Die körperlichen Merkmale von Mädchen und Frauen mit XY-Chromosomen sind sehr variabel – sowohl was die äußeren Geschlechtsmerkmale als auch die innere Anatomie betrifft.

So können die äußeren Geschlechtsmerkmale typisch weiblich, aber auch in unterschiedlichem Ausmaß untypisch sein. Auch die inneren Geschlechtsorgane können variieren. Manche Mädchen und Frauen mit XY-Chromosomen haben typisch weibliche innere Geschlechtsorgane, andere haben keine oder eine Kombination aus männlichen und weiblichen Geschlechtsorganen.

Bei einigen Mädchen und Frauen mit XY-Chromosomen verläuft die Pubertät normal, bei anderen ist sie verzögert oder bleibt ganz aus.

XY-Chromosomen einfach erklärt

Die XY-Chromosomen sind ein Paar von Geschlechtschromosomen, das in der Regel bei Männern vorkommt.

  • Geschlechtsbestimmung: Ein Y-Chromosoms führt in der Regel zur Entwicklung männlicher Geschlechtsmerkmale. Das Y-Chromosom enthält ein Gen, das als SRY-Gen (Sex-determining Region Y) bezeichnet wird. Dieses Gen spielt eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der Hoden.
  • Vererbung: Bei der Fortpflanzung wird jeweils ein Geschlechtschromosom von jedem Elternteil an das Kind weitergegeben. Ein Kind, das ein X-Chromosom von der Mutter und ein Y-Chromosom vom Vater erhält, hat XY-Chromosomen und entwickelt sich in der Regel zu einem Mann.
  • Variationen: Es gibt Variationen in der Anzahl und Struktur von Geschlechtschromosomen. In einigen Fällen können Personen mehr oder weniger als zwei Geschlechtschromosomen haben. Diese Variationen können zu unterschiedlichen Entwicklungen der Geschlechtsmerkmale führen.

Gewissheit nach der Geburt

Nancy und ihr Mann beschlossen schnell, die Freude auf ihr Kind nicht von dieser Diagnose überschatten zu lassen. "Wir sind von Anfang an mit Humor an die Sache gegangen", erklärt sie. "Mein Partner wünschte sich ein Mädchen und ich mir einen Jungen. Vielleicht bekamen wir jetzt beides in einem. Wir haben viel gescherzt und so gelang es uns in der Schwangerschaft, einen positiven Blickwinkel auf alles zu bekommen."

Mandy-Malia kam im November 2024 per Kaiserschnitt zur Welt. "Für uns war als erstes wichtig zu erfahren, wie das Geschlecht aussieht. Der Arzt hatte uns darüber informiert, dass wenn das Geschlecht nicht eindeutig wäre, er 'divers' ankreuzen würde. Für mich eine schreckliche Vorstellung!"

Ihre erste Frage lautete also: "Wie sieht's aus?" Die Antwort des Arztes brachte Erleichterung: "Herzlichen Glückwunsch, Sie haben ein Mädchen."

Bei der ersten Untersuchung nach der Geburt bestätigte sich dann jedoch der Verdacht: Bei Mandy-Malia konnte kein Uterus gefunden werden. Der letzte Rest an Hoffnung, dass sich das Labor geirrt hatte und alles nur ein großes Missverständnis gewesen ist, ist damit dahin. "Ich versuchte in diesem Moment stark zu sein, positiv zu wirken. Schließlich wusste ich das doch eigentlich bereits. Dennoch brachen die Dämme, als die Ärztin den Raum wieder verließ … Mein Kind wird nie Kinder bekommen. Es muss Hormone nehmen. Es wird vielleicht Operationen brauchen. Es dann endgültig zu erfahren, tat trotz allem weh."

Offenheit statt Tabu

In welche Richtung sich Mandy-Malia im Hinblick auf ihr Geschlecht entwickeln wird, wird sich voraussichtlich erst in der Pubertät zeigen. Dennoch haben sich ihre Eltern gegen eine geschlechtsneutrale Erziehung und einen Unisex-Namen entscheiden. "Da das Geschlecht rein weiblich aussieht und wir ohne den NIPT-Test gar nichts wüssten, haben wir uns entschieden, sie erstmal als Mädchen zu sehen", erklärt Nancy ihre Entscheidung. "Sollte es doch in die andere Richtung gehen – kein Problem. Vornamen kann man ändern lassen!"

Die Ergotherapeutin hat sich bereits während der Schwangerschaft dazu entschieden, die Geschichte ihrer Tochter auf ihrem Instagram-Account @therapieprinz öffentlich zu machen. "Ich habe unsere Follower während der ersten Schwangerschaft mitgenommen und deshalb war es für mich normal, dies auch bei der zweiten zu tun."

Nachdem sie zum ersten Mal öffentlich in einem Reel darüber sprach, dass sie ein Mädchen mit XY-Chromosomen erwartet, waren die Reaktionen überwältigend. "Ich habe schnell gemerkt, dass die Menschen eigentlich so gut wie nichts davon wissen. Unwissenheit führt zu Angst und Unsicherheit."

Das Thema Intersexualität zu verheimlichen, hält sie für den falschen Weg. "Mein Kind soll selbstbewusst aufwachsen, sich niemals verstecken müssen oder gar schämen", erklärt Nancy. "Die Natur hat sie so gemacht und das ist auch gut so! Sie ist etwas Besonderes – nichts was man verstecken müsste!"

Mit Zuversicht in die Zukunft

Im Nachhinein ist Nancy froh, die Diagnose noch während der Schwangerschaft erhalten zu haben. "Es frühzeitig zu wissen, ist gut für die Psyche des betroffenen Kindes. Viele erfahren es erst im Teenageralter." Auch im Hinblick auf Krebsprävention seien regelmäßige Kontrollen auch schon im Kindesalter wichtig. Bei Mandy-Malia muss in den kommenden Wochen noch geklärt werden, ob möglicherweise Hoden im Bauchraum angelegt sind, die ärztlich beobachtet werden müssen.

In ihrem engsten Umfeld hat Nancy seit der Diagnose viel Unterstützung erhalten. Halt findet sie auch bei ihrem Partner. "Er sieht alles mit einer Leichtigkeit und nimmt unsere Tochter so wie sie ist." 

Der Austausch mit Müttern von anderen betroffenen Kindern hat ihr viel Kraft gegeben. "Ich freue mich über jede Betroffene, die sich bei mir meldet und auch über jede Nachricht von Müttern, die in der gleichen Situation stecken und um Rat bitten." 

Ihr größter Wunsch für Mandy-Malias Zukunft: "Dass sie (oder vielleicht er) in der Zukunft einfach glücklich ist – ob als Frau oder Mann ist doch völlig egal. Vielleicht entscheidet sich unser Kind auch, ein 'Es' zu sein … Ich möchte einfach nur, dass sie erhobenen Hauptes durch die Welt gehen kann."