Mehr als Schüchternheit

Selektiver Mutismus: Wenn Kinder einfach verstummen

Sind Kinder zwar in der Lage zu sprechen, verstummen aber in bestimmten Situationen – wie in der Kita oder der Schule – kann in seltenen(!) Fällen mehr als schüchternes Schweigen dahinterstecken. Selektiver Mutismus beschreibt eine psychische Störung, die Auslöser für das plötzliche Verstummen sein kann …

Selektiven Mutismus sollte man nicht mit Schüchternheit verwechseln.© Foto: iStock/Juanmonino
Selektiven Mutismus sollte man nicht mit Schüchternheit verwechseln.

Der sogenannte selektive Mutismus ist eine psychische Störung, die situationsabhängige Stummheit auslöst. Sie kann als soziale Funktionsstörung verstanden werden, die jedoch sehr selten vorkommt. Verhalten sich Kinder in sozialen Situationen zurückhaltend oder schüchtern, handelt es sich in den meisten Fällen nicht um selektiven Mutismus, sondern lediglich um leichte Formen sozialer Ängstlichkeit.

Wir haben mit dem Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten Ralph Schliewenz aus Soest dazu gesprochen. Er erklärt, wieso es wichtig ist, diesen Unterscheid zu machen und worum es sich genau bei selektivem Mutismus handelt.

Soziale Ängstlichkeit bei Kindern

Nicht selten beobachten Eltern, dass ihre Kinder im vertrauten Umfeld ein anderes Verhalten zeigen als in neuen oder ungewohnten Situationen. Manche Kinder, die zu Hause ungehemmt und selbstbewusst sind, zeigen sich zurückhaltend und schüchtern, sobald sie sich in eine neue Umgebung einfinden müssen. Das kann die Kita-Eingewöhnung, den Schulbeginn und auch sonst die Interaktion mit fremden Kindern und Erwachsenen betreffen.

Eltern sollten sich dabei jedoch nicht allzu schnell Sorgen machen. Gerade im Kindergartenalter ist diese Art von Schüchternheit nichts Ungewöhnliches. Meistens kann hierbei bereits die Unterstützung der Eltern sehr hilfreich sein. 

Wie kann ich mein schüchternes Kind ermutigen, sozial zu interagieren?

Damit sich Schüchternheit nicht manifestiert, können Eltern versuchen, ihr Kind dabei zu unterstützen, Ängste in sozialen Situationen abzubauen: "Immer wieder ermutigen kann helfen: ein Vorbild, ein Modell sein. Macht es vor und übt es im geschützten Rahmen miteinander ein. Im offeneren Rahmen unterstützt ihr und sorgt für Erfolgserlebnisse. Fragt euer Kind, was es sich von euch noch wünscht", rät Ralph Schliewenz.

Mehr Tipps dazu, wie ihr das Selbstbewusstsein eurer Kleinen stärken könnt, lest ihr in diesem Artikel:

Selektiver Mutismus bei Kindern

Der Begriff selektiver Mutismus (auch elektiver Mutismus genannt), beschreibt dagegen eine emotional bedingte psychische Störung. Sie drückt sich in der "Verweigerung, in bestimmten Situationen oder mit bestimmten Menschen zu sprechen" aus, so der Psychologe.

Es handelt sich also auch nicht um ein körperliches Sprechproblem, sondern eine soziale Funktionsstörung, die nicht mit sozialer Ängstlichkeit oder Schüchternheit gleichgesetzt werden kann. Dass betroffene Kinder nur in bestimmten Situationen ("selektiv") nicht sprechen, bedeutet auch nicht, dass diese Stummheit aktiv frei gewählt ist. Aus psychischen Gründen sind sie gehemmt, sodass sie nicht anders können, als sprachlos zu bleiben. 

Dazu kommt: Selektiver Mutismus kann jede Altersgruppe betreffen – auch Jugendliche und Erwachsene können darunter leiden. 

Was sind die Symptome von selektivem Mutismus?

Im Gegensatz zu dem totalen Mutismus, ist selektiver Mutismus dadurch gekennzeichnet, dass das Verstummen eben nur in bestimmten Situationen auftritt. Betroffene Kinder wirken dann meistens auch körperlich wie eingefroren.

Es gibt aber noch weitere Anzeichen, die auf selektiven Mutismus hindeuten können:

  1. Auch andere Laute werden unterdrückt (wie lachen, weinen oder sogar husten).
  2. schüchternes oder ängstliches Auftreten 
  3. Blickkontakt wird vermieden.
  4. Die Sprachentwicklung ist ansonsten altersgerecht.
  5. Das Verhalten zeigt sich länger als einen Monat.

Begleitet ist selektiver Mutismus oft von weiteren Auffälligkeiten: zum Beispiel von Bettnässen, Depressionen oder Stimmungsschwankungen.

Wie kann mein Kind auf selektiven Mutismus getestet werden?

Da die verschiedenen genannten Symptome nicht gleich ein Indiz für selektiven Mutismus sein müssen, aber ein Hinweis darauf sein können, sollte man eine Diagnose in jedem Fall Spezialisten überlassen. Eltern sollten dabei immer auch auf ihr Bauchgefühl hören: Ist mein Kind vielleicht einfach nur ab und zu schüchtern? Oder nimmt die Verhaltensweise extreme Formen an, sodass sie wirklich auffällig ist?

Wer Hilfe sucht, kann sich an den Kinderarzt oder an einen Kinder- und Jugendpsychologen wenden. "Die Diagnose kann sehr gut deskriptiv anhand des zu beobachtenden Verhaltens (Symptome) gestellt werden", bestärkt Ralph Schliewenz. Wichtig ist dabei aber in jedem Fall, sich Hilfe bei einem Experten zu holen. 

Was können Ursachen für den selektiven Mutismus sein?

"Wie so oft können die Ursachen vielfältig sein. Das Verhalten stellt in der Regel den Versuch dar, das zugrundeliegende Problem zu lösen. Es könnte eine Angst dahinterstecken", sagt der Psychologe. 

Sowohl das Umfeld, als auch die Veranlagung spielen dazu meistens eine Rolle. Zum einen sind Kinder mit einem zurückhaltenden Charakter öfter betroffen. Auch die Prägung durch die Familie ist entscheidend: Wird zu Hause wenig gesprochen, so verinnerlichen Kinder die gehemmte Kommunikation als normal. Manchmal entsteht die Sprachhemmung auch aus einer Entwicklungsverzögerung

Welche Therapiemöglichkeiten gibt es?

Selektiven Mutismus zu therapieren kann kompliziert sein, deshalb ist die Therapie immer individuell abgestimmt. Meistens wird über eine Verhaltenstherapie versucht, das Kind dabei zu unterstützen, Vertrauen auch zu fremden Personen aufzubauen – beispielsweise dem Therapeuten. "Es bedarf einer gehörigen Portion Geduld, Gelassenheit, Vertrauen und Aufklärung. Aber es gibt Kollegen und Kolleginnen, die sich darauf spezialisiert haben", versichert Ralph Schliewenz. 

Wie können Eltern selbst ihr Kind am besten unterstützen?

"Eltern können alternative Kommunikationsangebote machen. Das geht auch ohne Sprache, mittels Mimik, Gestik und unter Einsatz des Körpers (Umarmen, Kitzeln etc.). Oder sie nutzen die Schriftsprache, ob mit Papier und Stift oder digital per Chat.

Das löst das Problem nicht, kann aber vom Kind als Versuch verstanden werden, Verständnis zu vermitteln. Bleibt wohlwollend, liebevoll – nehmt eurem Kind aber nicht das Sprechen ab! Das hat es ja bereits gelernt", rät Ralph Schliewenz. Eltern sollten also nicht zum Sprachrohr für ihr Kind werden.  

Wer sich Hilfe bei einem Experten holen möchte, findet hier eine Liste mit spezialisierten Therapeuten und Therapeutinnen

Autorin: Laura Wohlmuth

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