
Der Wechsel von der Grundschule auf die weiterführende Schule ist wohl für alle Familien ein Meilenstein – und oft genug ordentlich nervenaufreibend. Doch muss das wirklich sein? Und warum ist das überhaupt so?
Lehrer oder Eltern entscheiden
Welche Schulform ist die beste für mein Kind? Und was machen wir, wenn wir als Eltern mit der Empfehlung der Lehrer nicht einverstanden sind? Das sind Fragen, die viele Eltern von Grundschülern beschäftigen, wenn der Wechsel auf die weiterführende Schule ansteht.
Erst einmal vorweg: Welche Schule für welches Kind die beste Wahl ist, ist so individuell wie die Kinder selbst. Man kann nicht grundsätzlich sagen, dass ein Gymnasium immer sein muss oder angestrebt werden sollte. Natürlich wollen alle Eltern das Beste für ihre Kinder, doch was das Beste ist, weiß man oft nicht so genau.
In allen Bundesländern bekommen die Kinder am Ende der Grundschulzeit eine Empfehlung der Lehrkräfte, welche weiterführende Schule für das Kind angeraten ist. Die letztendliche Entscheidung liegt in den meisten Bundesländern bei den Eltern. In Bayern, Brandenburg und Thüringen ist die Empfehlung der Grundschule bindend. In jedem Fall orientiert sie sich jedoch hauptsächlich an den Noten bzw. den Leistungen des Kindes, aber offenbar auch am Bildungsstand der Eltern (dazu mehr weiter unten). Ob die schulische Leistung aber ein ausreichendes Kriterium ist, um zu beurteilen welche weiterführende Schule für das Kind optimal ist, darüber lässt sich streiten.
Akademikerkinder bekommen häufiger eine Gymnasialempfehlung
Eine Studie der Universität Mainz zeigte, dass Kinder, deren Eltern eine höhere Bildung und ein höheres Einkommen haben, bei gleichen Noten eher eine Gymnasialempfehlung erhalten, als Kinder von weniger gebildeten Eltern mit niedrigerem Einkommen. Dürfen die Eltern über die Schulform der weiterführenden Schule entscheiden, spitzt sich das noch mehr zu: Offenbar sind Eltern mit höherer Bildung mehr hinterher, ihr Kind aufs Gymnasium zu schicken, während Eltern mit geringerer Bildung ihr Kind bei gleichen Noten eher nicht so oft auf dem Gymnasium anmelden. Marcel Helbig und Cornelia Gresch, wissenschaftliche Mitarbeiter(innen) am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin, fassen das in einem Schriftstück treffend zusammen:
Wo Eltern das letzte Wort haben, kommen noch weniger Arbeiterkinder aufs Gymnasium.
Die freie Elternwahl hat also nicht immer nur Vorteile. Und: "Eltern müssen sich in ihrem individuellen Fall auf ihre eigene Einschätzung verlassen, denn sie tragen schließlich die Verantwortung", betont der Kinder- und Jugendpsychologe Ralph Schliewenz aus Soest. "Bei unterschiedlichen Sichtweisen lohnt sich das Gespräch, um diese besser nachvollziehen und ggf. eigene Beurteilungen revidieren zu können. Erst wenn alle von der Entscheidung überzeugt sind, verbessert sich in der Regel auch die Prognose."
In Nordrhein-Westfalen wurden im Jahr 2017 Stimmen laut, die Vergleichstests am Ende der Grundschule forderten, um die Übergangsempfehlung gerechter zu machen. Eine Studie der TU Dortmund, die von der Stiftung Mercator gefördert wurde, zeigte nämlich, dass die Empfehlung für die weiterführende Schule oft nicht mit dem tatsächlichen Leistungspotenzial der Schüler und Schülerinnen übereinstimmte. Sowohl die Autoren der Studie als auch der Elternverein NRW hielten Vergleichstest als zusätzliches Kriterium für sinnvoll. Nachteil dabei: Die Tagesverfassung der Lernenden oder die Nervosität aufgrund des Tests könnten das Ergebnis verfälschen. In Bayern gibt es aktuell die Möglichkeit, ein Kind, das aufgrund des Notendurchschnitts keine klare Gymnasial- oder Realschulempfehlung hat, zum sogenannten Probeunterricht an der entsprechenden Wunschschule anzumelden. Dort gibt es dann schriftliche Aufgaben in Deutsch und Mathematik, die gemeinsam mit den mündlichen Noten über das Bestehen des Probeunterrichts entscheiden.
Egal, nach welchen Kriterien derzeit über die weitere Schullaufbahn entschieden wird, die Entscheidung ist sicher nicht unfehlbar. Hier gibt es auf Seiten der Behörden durchaus noch Luft nach oben, was die Verbesserung des Schulsystems angeht. Die Rütli-Schule in Berlin etwa ist in vielerlei Hinsicht neue Wege gegangen und ist damit sehr erfolgreich.
Verschenkt man Potenzial, wenn ein Kind nicht aufs Gymnasium geht?
Inwieweit ein Potenzial geweckt und es in der Folge genutzt wird, sollte nicht an den Besuch eines Gymnasiums geknüpft werden.
Das formuliert der Kinderpsychologe Ralph Schliewenz ganz klar. "Ich kenne viele gute Schulen, die Potenziale wecken und keine Gymnasien sind! Der Vorteil in Deutschland im 21. Jahrhundert ist doch die vielfältig vorhandene Durchlässigkeit des Systems." Er möchte Eltern dafür sensibilisieren, ihr Kind nicht um jeden Preis aufs Gymnasium zu schicken. "Ein Schritt in Richtung Abitur zu einem späteren Zeitpunkt vermittelt wohl eher ein Erfolgserlebnis und damit Stolz auf die eigene Leistungsfähigkeit. Der Schritt weg vom Gymnasium, weil man es 'nicht geschafft' hat, hinterlässt wohl eher Frust und Enttäuschung." Eltern dürfen sich ruhig einmal fragen, ob ihre Erwartungshaltung überhöht ist, wenn sie ihr Kind ohne Empfehlung aufs Gymnasium schicken wollen. Es kann natürlich auch sein, dass das Kind selbst unbedingt auf diese Schule möchte, weil die Freunde dorthin gehen. "Je nach Kontext wird es ggf. etwas anderes mit dem Kind machen: Je nachdem, ob es sich um eine Entscheidung entsprechend des Wunsches des Kindes oder gegen seinen Willen handelt", sagt Ralph Schliewenz.