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Disziplin ist gleichbedeutend mit autoritärer Erziehung – oder? Nicht unbedingt! Denn Disziplin kann viel mehr: Sie kann innerer Motivator sein, beim Erreichen von Zielen helfen und für Selbstwirksamkeit stehen. Daher ist sie auch eine wichtige Schlüsselqualifikation für die neue Zeit. Das sagen jedenfalls die Autorinnen Isabella Gölles und Ursula Günster-Schöning und haben ein Buch zu dem Thema geschrieben (siehe Buchtipp unten). Wir haben ein Gespräch mit ihnen geführt, das wir hier mit euch teilen.
Die Buchautorinnen und was sie sonst so machen

... ist Primärpädagogin und Psychologin (Schwerpunkt Entwicklungspsychologie und Resilienz im frühen Kindesalter) mit jahrzehntelanger Erfahrung im Schuldienst. Außerdem hat sie eine eigene Praxis, in der sie Menschen bei Bildungs- und Lebensentscheidungen unterstützt.
Wir durften den beiden viele neugierige Fragen stellen:
1. Was verstehen Sie unter Disziplin?
Ursula Günster-Schöning (UGS): Für mich ist Disziplin die innere Stärke, die es einer Person ermöglicht, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren, unabhängig von Ablenkungen oder Schwierigkeiten. So ist Selbstdisziplin der Motor für Entwicklung, denn Selbstdisziplin ermöglicht es Kindern, ihre Fähigkeiten zu stärken und ihr Selbstvertrauen aufzubauen, was wiederum eine positive Wirkung auf ihr Wohlbefinden und später auch ihre (schulischen und beruflichen) Leistungen hat.
Isabella Gölles (IG):Disziplin bedeutet die Fähigkeit, eigene Impulse zu kontrollieren und zielgerichtet zu handeln, um langfristige Ziele zu erreichen. Diese Fähigkeit ist nicht angeboren, sondern wird am Vorbild und von äußeren Umständen kopiert und erlernt. Der Mensch lernt am Modell, so orientieren sich besonders Kinder immer an dem Niveau, das man ihnen vorgibt. Ein Gefühl von selbstwirksamen Erfolg, ein Gefühl von "Ich kann das", können sie nur entwickeln, wenn es Raum und Möglichkeiten dazu gibt. Eine dauerhafte Unterforderung ist in ihrer Auswirkung viel negativer als eine leichte Überforderung, da diese einem die Möglichkeit gibt zu wachsen – an sich selbst und an den Anforderungen.
2. Das klingt eigentlich ziemlich gut. Warum hat Disziplin trotzdem einen schlechten Ruf?
IG: Disziplin wurde oft mit rigiden, autoritären Methoden verbunden, die dem Menschen schaden, die individuelle Freiheit und Kreativität einschränken, besonders im deutschsprachigen Raum. Wir stehen jedoch jetzt vor ganz anderen Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt. Die rasante Weiterentwicklung der KI wird unser Leben wahrscheinlich noch komfortabler machen. Wie wir jedoch mit dem daraus resultierenden Zuwachs an enormer Freizeit umgehen, hängt ganz von unserer Fähigkeit ab, uns selbst zu regulieren.
UGS: Oft wird Disziplin nur als strenge, kontrollierende, starre Kraft verstanden und weniger als innere Stärke, die es ermöglicht, persönliche Ziele zu erreichen und Herausforderungen zu meistern. In einer Zeit, in der Selbstverwirklichung und persönliche Freiheit im Vordergrund stehen, wird Disziplin oft als Gegensatz dazu wahrgenommen und mit Strenge, Zwang und rigiden Regeln assoziiert. Viele sehen darin eine Einschränkung ihrer Freiheit.
3. Warum ist es wichtig, zwischen äußerer und Selbstdisziplin zu unterscheiden?
IG: Äußere Disziplin basiert auf Regeln von außen, während Selbstdisziplin von innerer Motivation getragen wird, was nachhaltiger und erfüllender ist. Ohne Vorbilder, ohne Erfühlen, Erahnen, wie es funktionieren könnte, sich selbst zu regulieren, sind die Kinder, jungen Erwachsenen und auch Erwachsene völlig sich selbst überlassen.
UGS: Äußere Disziplin und Selbstdisziplin haben unterschiedliche Ansätze und Konsequenzen in Bezug auf Motivation, Verhalten und langfristige persönliche Entwicklung. Selbstdisziplin basiert auf innerer Motivation. Hier entscheidet sich die Person freiwillig, selbst und bewusst für ein bestimmtes Verhalten, während die äußere Disziplin notwendig ist, um Kindern klare Strukturen, Sicherheit und auch Grenzen mit Blick auf das Miteinander zu vermitteln, um so ihr soziales Verhalten zu fördern.
4. Warum ist Disziplin eine Schlüsselkompetenz des 21. Jahrhunderts?
IG: Im Zeitalter der Ablenkungen ist die Fähigkeit, sich zu fokussieren und beharrlich an Zielen zu arbeiten, essenziell für den persönlichen und beruflichen Erfolg, ja sogar für die eigene physische und psychische Gesundheit.
UGS: Alle Kinder, die jetzt, im Jahr 2024, den Kindergarten besuchen, werden erst nach 2040 ihre Ausbildung oder ihr Studium beenden. Was sie dann erwartet, wissen wir nicht. Doch wir wissen, dass Disziplin für Willenskraft, Ausdauer, Selbststeuerung, Einsatzbereitschaft und innere Stärke steht. Diese innere Macht, die ein jeder, eine jede in sich trägt, muss allerdings erst geweckt werden, braucht Übung, gleich einem Muskel, der trainiert werden muss, um seine volle Kraft zu entfalten. Denn ohne Disziplin, Anstrengungsbereitschaft und die Fähigkeit zur Selbstregulation lässt es sich auf Dauer nicht glücklich leben, wie auch immer das Leben im Jahr 2040 aussehen mag.
5. Wie hängen Leistungsbereitschaft und Disziplin zusammen?
UGS: Eng! Loslegen, diszipliniert an Zielen arbeiten und entsprechend anpacken wird genährt von Leistungsbereitschaft. Kinder brauchen durch Erwachsene dazu eine "Anleitung" und auch ein Einfordern von Anstrengung, um vielfältige (Basis-)Kompetenzen zu entwickeln. Dadurch werden sie selbstwirksam, erfahren Lernlust und können sich in der komplexen Welt gut zurechtfinden.
IG: Leistungsbereitschaft entsteht durch die Fähigkeit, sich Ziele zu setzen und durchzuhalten, ob im beruflichen oder privaten Bereich. Eine gesunde Disziplin fördert dies, indem sie Selbstregulation und Durchhaltevermögen unterstützt. Disziplin ist im Grunde genommen auch die Grundvoraussetzung für langfristig gelungene zwischenmenschliche Beziehungen. Sie ermöglicht es der Liebe durchs "Dranbleiben" erst, sich zu entfalten.
6. Okay, Disziplin ist wichtig und hilfreich. Doch wie passt sie mit einer freien Entwicklung von Kindern zusammen?
UGS: Disziplin und die freie Entwicklung von Kindern scheinen auf den ersten Blick im Widerspruch zu stehen, doch in Wirklichkeit ergänzen sie sich, wenn sie ausgewogen und bewusst eingesetzt werden. Eine Kombination aus Disziplin und freier Entwicklung kann Kindern helfen, sowohl Selbstständigkeit als auch Verantwortungsbewusstsein zu entwickeln. Ein Beispiel: Disziplin und klare Regeln sowie Strukturen geben Kindern einen eindeutigen Rahmen, ohne sich in einem chaotischen oder unsicheren Umfeld zu verlieren. Partizipation, also Mitbestimmung, gibt Kindern die Möglichkeit, sich auszuprobieren und selbstbestimmt zu agieren, um Selbstwirksamkeitserfahrungen zu sammeln und für sich Entscheidungen treffen zu lernen. Diese Mischung erlaubt es dem Kind, seine eigenen Interessen zu entdecken, während es gleichzeitig lernt, Verantwortung für bestimmte Aufgaben zu übernehmen.
IG: Disziplin gibt Kindern Struktur, in der sie sicher experimentieren können. Mit klaren Grenzen werden sie selbstbewusster und selbstwirksamer, sie können Sicherheit und Stabilität erfahren und sich so auch kreativ und individuell entfalten, je nach Bedarf und Situation. Es ist wichtig, dass sich Kinder auf ihre Bezugspersonen verlassen können. Man sollte Kindern beibringen, beides zu kennen: die Freiheit im Denken, im Bedürfnis etwas zu lernen oder zu erforschen, jedoch auch z. B. das notwendige ruhige Miteinander in der Gruppe.
7. Brauchen Kinder heute also eine autoritäre Erziehung?
UGS: Ich denke nein. Vielmehr brauchen Kinder "natürliche" Autoritäten, oder anders gesagt: Kinder zu erziehen, braucht den Mut, eine positive Autorität zu sein. Dabei geht es um eine reflektierte Auseinandersetzung mit dem Begriff "Autorität" und somit eine Entwicklung weg von tradierten Formen der Autorität hin zu einer neuen, gesunden Autorität. Diese neue Form bietet Kindern Orientierung, Sicherheit und Halt und gewährleistet gleichzeitig eine wachsame Sorge und offene Aufmerksamkeit für das Kind. Eltern werden so durch ihre Erziehung zu einem sicheren Hafen, wo das Kind Schutz, Trost, Liebe und Zuspruch sowie auch Orientierung und Halt erfährt.
IG: Autoritäre Erziehung kann kurzfristige Ergebnisse bringen, aber die Freude am Lernen und die intrinsische – also, aus sich selbst heraus entstehende – Motivation werden dabei unterdrückt. Damit sich Selbstwirksamkeit entwickelt, braucht es ein hohes Maß der Arbeit an sich selbst, jedoch auch klare Vorgaben und Richtlinien aus der Umwelt.
8. Wie vermitteln wir Kindern, dass Anstrengung erfüllend sein kann?
IG: Durch positive Vorbilder, Belohnung von Anstrengung, nicht nur von Ergebnissen, und das Aufzeigen von Fortschritten, die durch Mühe erreicht werden. Durch den gemeinsamen schönen Weg dorthin. Das Kind, der Jugendliche kann das Wohlwollen der Bezugsperson erahnen und erfühlen.
UGS: Kinder brauchen Erwachsene, die ihnen vorleben, dass Anstrengungsbereitschaft, Fleiß, Selbstregulation und Disziplin keine "schrecklichen Dinge" oder ein notwendiges Übel sind, sondern auch Spaß und Befriedigung mit sich bringen und sogar erfüllend sein können. Auch der Stolz auf das, was erreicht und geschafft wurde, oder die wohltuende Erschöpfung nach getaner Arbeit sind wichtige Erfahrungen, um nicht nur zu überleben, sondern das Leben nach den eigenen Wünschen und Vorstellungen gestalten zu können.
9. Warum ist es wichtig, Ziele zu setzen, und wie motivieren wir Kinder dazu?
IG:Ohne Ziele ist das Leben wie eine Schifffahrt ohne Steuer. Ziele geben eine Richtung und Sinn. Kinder werden motiviert, wenn sie sehen, dass ihre Anstrengungen zu spürbaren Erfolgen führen und dass sie etwas bewirken können.
UGS: Die Fähigkeit, eine "Situation im Griff zu haben", also das positive Selbstkonzept verbunden mit dem Glauben an die eigenen Kräfte und Fähigkeiten, ist wichtig, um im späteren Leben eigene Lösungen für Probleme finden zu können. Klare und erreichbare Ziele sind dafür ein wichtiger erster Schritt. Durch das Festlegen von Zielen können wir uns darauf fokussieren, was wir erreichen wollen und uns motivieren, Anstrengungen zu unternehmen, um diese Ziele zu erreichen. Und dies geht auch schon mit Kindern – obwohl diese in der Regel gar nicht motiviert werden müssen. Kleinkinder verfolgen ihre Ziele (z. B. laufen lernen und sich dafür am Tisch hochziehen) aus sich selbst heraus, das heißt, mit intrinsischer Motivation.
10. Wo braucht es ein Umdenken in Bezug auf Disziplin?
IG: Ein Umdenken zu Qualität vor Quantität, zu intensiven Lernzeiten mit erreichten Lernzielen anstatt unendlich ausgedehnten Betreuungszeiten. Es wäre schön, wenn der Bildungsstatus nicht mehr "vererbt" werden würde, sondern wirklich alle eine hochwertige Bildung und Erziehung zu einem mündigen Menschen bekommen.
UGS:Gute Bildung und Erziehung sind die Grundlagen, Disziplin bzw. Selbstdisziplin die Erfüllungsgehilfen und somit Schlüsselkompetenzen für die Zukunft. Und warum? Weil sich fast jeder Erfolg aus Disziplin speist. Es geht bei der Auseinandersetzung mit Disziplin im eigenen Leben nicht darum, sich ständig selbst zu kasteien. Und im Zusammensein und in der Arbeit mit Kindern, ob nun in Kita, Schule oder Elternhaus, auch nicht darum, Kinder anzuleiten, wie sie exakt äußere Regeln beachten und sich programmieren, permanent gute Leistungen zu erbringen. Sondern vor allem darum, ein glückliches und erfülltes Leben zu führen. Zu lernen, sich eigene Ziele zu setzen, an sich selbst zu glauben und sich selbst zu motivieren, um die eigenen Ziele dann auch zu erreichen. Meiner Meinung sollte hier ein Umdenken stattfinden, indem wir die Disziplin wieder positiv besetzen und zu einem wichtigen Wert in unserem Leben machen.
11. Was sollte sich sonst noch ändern?
IG: Disziplin sollte nicht als starre Kontrolle verstanden werden, sondern als notwendiges Werkzeug, um Freiheit, Selbstwirksamkeit und langfristigen Erfolg und dadurch ein gelungenes Leben zu ermöglichen.
UGS: (Selbst-)Disziplin ist für alle Kinder von großer Bedeutung, da sie auch lernen müssen, ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche zurückzustellen, um übergeordnete Ziele zu erreichen, und vor allem, um sich selbst vor Medien-, Alkohol-, Konsum-, Drogensucht oder Überlastung und Ausbeutung der eigenen Ressourcen in der Zukunft zu schützen. Lob, Ermutigung und positive Verstärkung sowie eine fehlerfreundliche (Lern-)Atmosphäre sind dafür ein wichtiger Nährboden und tragen dazu bei, die Motivation der Kinder für Selbstdisziplin zu steigern. Wachsame Sorge, offene Aufmerksamkeit, Geduld und echtes Interesse am Kind sind ebenfalls grundlegend, da die Entwicklung von Selbstdisziplin ein schrittweiser Prozess ist und Zeit erfordert.
... ist Sozialfachwirtin, systemische Organisationsentwicklerin und SeniorCoach (QRC) mit eigener Praxis. Außerdem ist sie als Dozentin und Autorin im Bereich der frühkindlichen Bildung tätig. Auch einen eigenen Youtube-Kanal bestückt sie regelmäßig.