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Wenn Kinder einfach nicht stillsitzen können. Wenn sie immer nur das gleiche essen wollen. Wenn sie ständig Dinge kaputtmachen. Wenn sie sich hartnäckig weigern, selbst zu laufen und sich ständig auf den Boden werfen. Wenn sie im gemeinsamen Spiel ruppig zu anderen Kindern sind. Dann kann Eltern das wirklich an ihre Grenzen bringen. Und nicht selten kommt die Frage auf: Ist mein Kind besonders anstrengend? Machen wir in der Erziehung irgendwas falsch?
Andreas Heimer ist Physiotherapeut, Berater und Seminarleiter und weiß: "Welche kindlichen Verhaltensweisen von Mitmenschen überhaupt als schwierig, anstrengend, irritierend oder rätselhaft empfunden werden, ist höchst individuell. Manche stört es beispielsweise, wenn Kinder von überall herunterspringen, andere finden das vielleicht ganz wunderbar – und würden sogar am allerliebsten ausgiebig mitspringen."
Anzeichen für wahrnehmungsbesondere Kinder
Die Bandbreite von Verhaltensweisen, die aus Erwachsenensicht als schwierig gelten, ist groß. Sind Kinder besonders ungeschickt, besonders albern oder auch besonders schüchtern, wird das oftmals als "nicht normal" gewertet. Dabei liegt vieles im Auge des Betrachters. "Auch das ständige Hängen am Rockzipfel eines Erwachsenen kann nerven, muss es aber nicht. Ebenso verhält es sich mit zappeligem Nicht-still-sitzen-Können, einer Vorliebe fürs Barfußlaufen, dem leidenschaftlichen Hobby, alles Mögliche aus den Händen rieseln zu lassen oder einfach dem unbändigen Drang, alles reglementieren zu wollen."
Andreas Heimer spricht in diesem Zusammenhang von "wahrnehmungsbesonderen Kindern". Die Problematik, die er seiner Praxis oft erlebt hat, ist, dass viele dieser Kinder vorschnell in bestimmte Schubladen gesteckt werden. "Die beiden gängigsten Vorurteile äußern sich in zwei Stempeln, die für ihre Verhaltensweisen gerne gezückt werden. So wird das Verhalten stark reizsuchender Kinder oft als provokant wahrgenommen, und jenes von überwiegend reizvermeidenden Kindern als verweigernd. Beides sind Wertungen, die wenig Spielraum lassen für Kreativität, Umgangsmöglichkeiten und Dialog."
Mehr Verständnis für kindliche Verhaltensweisen schaffen
Nicht selten führe dieser "wertende Scheuklappenblick" zu Teufelskreisen und Verfestigung. "Neben den Stempeln 'provokant' und 'verweigernd', sind auch weitere häufig anzutreffen: seltsam, verrückt, faul, egoistisch, nervig oder schlicht 'geht gar nicht'", so Andreas Heimer. "All diese Stempel engen unseren Blick ein und sind letztlich extrem ungerecht. Auch sind sie nicht entwicklungsförderlich."
Er plädiert deshalb für einen neuen Blickwinkel auf sogenannte schwierige Verhaltensweisen.
Zunächst einmal gelte es für Eltern, das Verhalten ihrer Kinder nicht persönlich zu nehmen. "Häufig haben Eltern und Begleitende ja bereits ein ziemlich gutes Gespür für die möglichen Hintergründe von kindlichem Verhalten entwickelt und ahnen dessen Sinnhaftigkeit." Im nächsten Schritt sei es jedoch wichtig, Außenstehenden gegenüber klarzumachen, was hinter den Verhaltensweisen ihres Kindes steckt und um Verständnis zu werben. "Nicht selten nämlich steht die Sorge, was andere denken oder kommentieren könnten, absolut im Vordergrund – und macht einen Großteil des damit verbundenen Stresses aus."
Was Eltern tun können, wenn sie nicht mehr weiterwissen
Wenn Eltern ratlos über bestimmte Verhaltensweisen ihres Kindes sind, lohnt sich oft eine Nachfrage. So sei auch Heimer immer wieder überrascht, was Kinder antworten, wenn er fragt: "Warum tust du das?" Die Gründe sorgen regelmäßig für Aha-Momente – und zwar auf beiden Seiten. "Das kann die Situation manchmal augenblicklich entlasten – und sogar Spaß entstehen lassen."
Natürlich gibt es auch besonders extreme Verhaltensweisen - wie zum Beispiel übergriffige Kontaktaufnahmen wie Beißen, Kratzen oder Treten oder das Werfen von Gegenständen. Auch eine ständige Weinerlichkeit oder ein ständiger Rückzug könne Eltern und Begleitende zutiefst besorgen. Hier brauche es bisweilen auch Regeln, das Setzen von "No-Gos", aber eben auch Alternativen. "Und manchmal ist womöglich ärztlicher Rat notwendig. Nicht alles muss und kann selbstständig bewältigt werden", betont Andreas Heimer.
Basissinn-Konzept: Auf die sieben Sinne konzentrieren
"Mindestens dann aber, wenn vermutete Wahrnehmungsbesonderheiten mit Entwicklungsbeeinträchtigung oder großem Stress bis hin zu emotionalen Problemen einhergehen, ist therapeutische Unterstützung gewiss eine gute, förderliche und entlastende Idee", erklärt er.
Er rät dazu, einen genauen Blick auf alle Sinne zu werfen – und dazu zählen neben Sehen, Hören, Riechen, Tasten und Schmecken auch die drei sogenannten Basissinne: das Taktile System (die Haut), das Gleichgewicht (das vestibuläre System) und die Tiefensensibilität. "Die Tiefensensibilität ist der unterschätzte menschliche Sinn, obwohl er mit den Muskeln, den Sehnen und Gelenken, der Knochenhaut, den Faszien und den tiefsten Hautschichten unser mit Abstand umfangreichster Sinn ist", erklärt der Experte. "Er ist unter anderem zuständig für die Kraftentfaltung und die Stellung von Gelenken und somit federführend für den Aufbau vom Körperschema. So liegt also mein Augenmerk in der Auseinandersetzung mit schwierigen Verhaltensweisen insbesondere auf diesen drei körpernahen Basissinnen mit einem ganz besonderen Fokus auf der unterschätzten Tiefensensibilität."
Er weiß: "Kinder entwickeln aufgrund ihrer Wahrnehmungsbesonderheiten oft clevere und beeindruckende Verhaltensweisen." Oder anders ausgedrückt: Was Eltern nervt, ist für Kinder oft sinnvoll. Für die Eltern gilt es nun, Umgangsmöglichkeiten und Handlungsideen zu finden.
Seiner Meinung nach ist das Wissen um die Bedeutung von Tiefensensibilität und Gleichgewicht für gelingende Entwicklungsprozesse entscheidend. "Ein fundamentales Anliegen des Basissinn-Konzeptes ist es, dass auch Eltern, Begleitende und pädagogisches Fachpersonal sich selbstbewusst in konstruktive therapeutische und pädagogische Überlegungen zu ihrem Kind einbringen können." Damit für jedes Kind und jede individuelle Verhaltensweise ein Weg gefunden werden kann, der allen Beteiligten hilft.

