Neurodiversität

Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern: Nicht das Kind ist das Problem, sondern die Gesellschaft

Lauter, wilder, wütender: Wenn Kinder durch ihr Verhalten immer wieder auffallen, zweifeln Eltern oft an sich und fragen sich: Ist das noch normal?

Kleiner Junge tanzt zu Hause.© iStock/portishead1
Wenn Kinder besonders zappelig sind, wird oft die Diagnose ADHS gestellt.

Das Mädchen, das gedankenverloren vor sich hin träumt, statt im Unterricht aufzupassen. Der Junge, der über Tisch und Bänke springt, ständig stört und immer so wütend ist. Wohl jeder hatte früher so einen Mitschüler. Und jetzt, da wir selbst Eltern sind, schauen wir ganz genau hin: Ist mein Kind einfach nur sehr lebhaft? Oder ist sein überbordendes Temperament ein Warnsignal?

ADHS, Lernschwierigkeiten, Hochsensibilität – Begriffe wie diese sind in aller Munde. Wenn Eltern mit ihrem Latein am Ende sind, suchen sie Rat bei Ärzten und Spezialisten, und bekommen schließlich – nicht immer, aber oft – eine Diagnose. Und dann? Für die betroffenen Familien beginnt meist ein langer Leidensweg, für das Kind ein Therapiemarathon, der nicht immer von Erfolg gekrönt ist. Aber geht es auch anders?

Als Problemkind abgestempelt

"Als 'Problemkind' gilt ein Kind in unserer Gesellschaft, sobald es sich außerhalb der Norm befindet mit seinem Verhalten und seinen Symptomen", erklärt Alexandra Zengerling, Heilpraktikerin, Lerntherapeutin, Burnout-Therapeutin und Elterncoach.

2017 hatten nach statistischen Angaben 2,3 Prozent aller Mädchen und 5 Prozent aller Jungs in Deutschland AD(H)S-Diagnosen. 2019 waren 823.000 Kinder und Jugendliche in psychotherapeutischer Behandlung und damit 109 Prozent mehr als zehn Jahre zuvor. Seit der Corona-Pandemie ist ein weiterer Anstieg zu verzeichnen. 

In ihrer Praxis begleitet Alexandra Zengerling Eltern, die Schwierigkeiten haben, eine harmonische Beziehung mit ihren Kindern zu führen, Kinder, die das Nein ihrer Eltern permanent ignorieren und Grenzen überschreiten, die heftige Wutanfälle haben, die die gewöhnliche Trotzphase überschreiten. Aber auch Kinder, die unter Ängsten, Tics und Panik leiden, die AD(H)S-Diagnosen haben, Mobbingopfer sind, Kinder, die die Schule verweigern, gefühlsstarke Kinder, die ihre Emotionen unkontrolliert herauslassen, die sich nicht anpassen (lassen), genauso wie Eltern, deren Kinder betroffen sind von einer Lese-Rechtschreibschwäche, einer Rechenschwäche und Konzentrationsstörungen, Hochbegabung und Entwicklungsverzögerungen. 

"Auch Bettnässen im Schulalter und Hausaufgabensituationen, die regelmäßig eskalieren, werden mit dem Wort 'Problemkind' in Verbindung gebracht", weiß die Buchautorin ("Dein Kind ist kein Problemkind", siehe Buchtipp weiter unten). "Viele Eltern berichteten mir, dass ihr Kind als 'Problemkind' wahrgenommen wurde, sobald es stört: Kinder, die Dinge tun, die man nicht darf oder die 'man nicht macht', die sich nicht an die Regeln halten."

Vorschnelle Urteile vermeiden

Wenn die Eltern zu ihr kommen, haben sie meist schon viele Stationen hinter sich – vom Kinderarzt über Logopädie, Ergotherapie, Verhaltenstherapie oder Sozialpädiatrischen Zentren. Auch wenn eine Diagnose zunächst vermeintlich alles einfacher macht, weil es endlich einen Namen für das Problem gibt: Das Denken in Schubladen schade oft mehr als es nützt. "Als Therapeutin, Elterncoach und Mutter von zwei Jungs weiß ich, wie schnell Kinder in der Gesellschaft den Stempel des 'Problemkindes' aufgedrückt bekommen", so Alexandra Zengerling. "Was die meisten Menschen aber noch nicht wissen, ist, dass genau dieser Stempel zu inneren Überzeugungen und Glaubensmustern wird und das eigentliche Problem dahinter so nicht verändert werden kann", erklärt sie. 

Auch Kinderarzt Dr. Vitor Gatinho warnt davor, Kinder vorschnell abzustempeln. "Sind Eltern verunsichert oder verstehen ihr Kind nicht, dann möchten sie gern eine eindeutige Diagnose." So werden Kinder dann "hochsensibel" oder "gefühlsstark" genannt und damit an sich ganz normale Charaktereigenschaften pathologisiert. Dies kann negative Folgen haben: "An der Stirn des Kindes klebt ein Label und alles, was es macht, wird durch diese Brille beurteilt. Dabei verändern sich so junge Menschen noch sehr und vielleicht ist das heute so rasch auf Reize reagierende 'hochsensible' Kitakind in ein paar Jahren doch ein wilder Rabauke, der gar nicht so feinfühlig ist?", erklärt er in seinem Buch "Wenn die Laus juckt und der Zahn wackelt".

Deshalb ist es wichtig, genau zwischen einer Störung und einem normalen Gefühl zu unterscheiden. "Der Unterschied liegt in dem Ausmaß des Gefühls, also darin, dass dieses Gefühl so übermächtig wird, dass es den gesamten Alltag des Kindes störend überschattet oder das Kind leiden lässt", so der Kinderarzt.

Eltern machen sich Vorwürfe

Doch auch wenn eine Diagnose vorliegt, sei dies keine Endgültigkeit, mit der sich Eltern abfinden müssen. "Wir müssen aufhören, von außen die Symptome zu bekämpfen und stattdessen lernen, ihre Botschaften zu verstehen und die Ursachen dahinter zu erkennen und zu lösen", so Alexandra Zengerling. 

Die Stigmatisierung vermeintlicher Problemkinder ist ihrer Meinung nach das eigentliche Übel. 

Das Kind ist nicht falsch, weil es Symptome zeigt. Unsere Gesellschaft neigt sehr schnell zum 'Weghaben-wollen', wenn's unangenehm wird. Doch Symptome bleiben so lange, bis ihre Botschaft gesehen wurde.

Wenn Kinder verhaltensauffällig werden, zweifeln viele Eltern an sich selbst. Vor allem Menschen, die in ihrer eigenen Kindheit Schwierigkeiten hatten, weil sie als besonders wild oder besonders schüchtern galten, haben oft Angst, dass sie diese Prägungen an ihr Kind weitergeben. Dabei ist es wichtig, sich nicht von seinen eigenen negativen Erinnerungen leiten zu lassen. 

"Die Symptome unseres Kindes lösen in uns Glaubensmuster aus, wie das Gefühl, versagt zu haben, nicht gut genug zu sein." An dieser Stelle beginnt häufig eine Negativ-Spirale. Solange die Ursachen für das Verhalten des Kindes nicht bekannt sind, verstärken sich Symptome oft nur noch, je mehr versucht wird, sie zu unterdrücken. "Energie fließt dorthin, worauf wir unseren Fokus haben." Der Versuch, das eigene Kind "alltagstauglicher" zu machen, nur um ihm die gleichen Erfahrungen zu ersparen, geht meist nach hinten los. Wichtiger ist, die einzigartigen Talente und Fähigkeiten des Kindes zu erkennen und zu stärken. 

Die Ursachen liegen oft im Verborgenen

Für viele Eltern kommt erschwerend hinzu, dass Kinder ihnen mit ihren Symptomen die eigenen wunden Punkte spiegeln. "So ist die Wut in den meisten Fällen ein sogenannter gegenteiliger Spiegel. Wir sagen, das kann doch unser Kind gar nicht von uns haben, wir haben doch früher gelernt, lieb, nett und brav zu sein, um Anerkennung zu bekommen. Und genau das wird hier deutlich: Dort, wo wir Eltern unsere Emotionen unterdrückt und heruntergeschluckt haben, weil vielleicht die Konsequenz zu groß gewesen wäre, sie rauszulassen vor unseren eigenen Eltern, dort agieren unsere Kinder wie unser Ventil."

Therapien sollten deshalb an der Wurzel des Problems ansetzen – und nicht nur die Symptome behandeln. "Starke Emotionen kommen aus dem Unterbewusstsein und sind in dem Moment, wo wir sie bewusst spüren, schon voll im Gang und kaum noch steuerbar. Symptome haben Botschaften, die es gilt, verstehen zu lernen. Denn sie führen uns an die Ursachen dahinter, an den Kern des Entstehens." Besonders, wenn Therapien bereits in einen Therapiemarathon ausgeartet seien, aber die Erfolge bislang noch ausbleiben, sollte man genauer hinschauen. 

Für Eltern sei es nicht zu spät, um etwas zu ändern. "Ein Kind, das seit zehn Jahren mit Wutanfällen reagiert, braucht nicht länger, um damit aufzuhören, als ein fünfjähriges Kind", sagt sie. "Ist die Ursache gelöst, braucht es das Symptom nicht mehr länger und es kann verschwinden."

Es gehe immer darum herauszufinden, was bestimmten Verhaltensauffälligen zugrunde liegt, um eine nachhaltige Lösung zu finden.

Wenn ein Kind Symptome zeigt, heißt das nicht, dass Eltern sich damit abfinden müssen oder höchstens Linderung für sie möglich wäre. Und auch nicht, dass mit ihnen oder ihrem Kind etwas falsch ist.

Neurodiversität bei Kindern

Unter dem Stichwort Neurodiversität werden verschiedene Diagnosen wie ADHS, Dyslexie oder Autismus zusammengefasst. Der Begriff wurde in den 90er-Jahren geprägt. Neurodivergenz oder Neurodiversität beschreibt eine andersartige neurobiologische Disposition im Gehirn – das Gehirn der Betroffenen funktioniert quasi anders. Menschen mit Autismus, Hochbegabung, mit ADHS oder mit Tics gelten nicht als krank, ihr Gehirn nimmt jedoch anders wahr. Neurodivergente Kinder brauchen Hilfe und Unterstützung, um in der andersartigen Welt, in der sie leben, zurechtzukommen und ihr Potenzial ausschöpfen können.

Unsere Expertin: Alexandra Zengerling

Alexandra Zengerling

Alexandra Zengerling ist verheiratet, zweifache Mutter und arbeitet als Heilpraktikerin und Lerntherapeutin für LRS, Dyskalkulie und AD(H)S. Sie betrieb jahrelang eine eigene Praxis und sattelte inzwischen auf Online-Coaching um. Ihr Ansatz: Sie therapiert die Eltern und nicht mehr die Kinder. In ihrem Buch "Dein Kind ist kein Problemkind" zeigt sie Eltern, wie sie die Ursachen hinter den Verhaltensauffälligkeiten entschlüsseln können.