Locker bleiben

Schulleiterin: "Lassen Sie Ihre Kinder los – und vertrauen Sie ihnen!"

Eva Baier ist Schulleiterin einer Hamburger Grundschule. Stellvertretend für viele andere Pädagog:innen hat sie einen Brief an alle Eltern geschrieben. Mit ein paar Punkten, die sie schon lange einmal loswerden wollte – und Tipps für alle Mamas und Papas, die sich eine erfolgreiche Schulzeit für ihre Kids wünschen.

Mutter verabschiedet ihren Sohn vor der Schule.© iStock/monkeybusinessimages
Eltern sollten ihre Kinder unterstützen – und sie loslassen, ihnen vertrauen.

Liebe Eltern, 

selten zuvor hat sich Schule so sehr verändert wie in den letzten Jahren – und damit auch die Anforderungen, die an Ihr Kind gestellt werden. Neben den Inhalten in den Unterrichtsfächern meine ich zum Beispiel die Themen Selbstwirksamkeit, Resilienz sowie soziale und digitale Kompetenz. Darüber hinaus soll Ihr Kind schon in der Grundschule ein hohes Maß an Umweltbewusstsein entwickeln.

Kinder müssen lernen, wie sie lernen

Wie kann es gelingen, dass Ihr Kind in der Schule zurechtkommt – und welche Rolle spielen Sie als Eltern dabei? Zunächst: Sie können Ihr Kind sehr unterstützen, indem Sie mit ihm positiv in die Zukunft schauen, Mut machen, Verständnis zeigen. Und manchmal auch klare Grenzen setzen. Dies erfordert ein hohes Maß an Fingerspitzengefühl von Ihnen und ein großes Maß an pädagogischer Kompetenz einer Lehrkraft.

Kinder möchten lernen. Es gibt keine unbegabten oder gar dummen Kinder. Manche kommen an ihre Fähigkeiten nicht gleich heran. Hier können Eltern und Pädagog:innen helfen. Und Kinder, die mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben, aber lernen, damit umzugehen, kommen im Leben oft viel besser zurecht, als diejenigen, denen scheinbar alles vorerst zugefallen ist.

Die ersten Jahre Ihres Kindes in der Schule sind ausgesprochen entscheidende Jahre für die Schullaufbahn. In der Grundschule entwickeln Kinder ihre Einstellung zum Lernen. Sie entdecken, wie sie persönlich lernen. Sie lernen das Lernen und erfahren, dass auch der Kopf und nicht nur der Körper trainierbar ist. Diese Erfahrungen müssen die Kinder selbstständig machen – und dabei können Sie helfen.

So viel wie nötig, so wenig wie möglich Hilfestellungen

Begleiten Sie Ihr Kind so viel wie nötig und so wenig wie möglich. Vielen fällt das besonders nach den harten Corona-Jahren, in denen sie zu Hause im Homeschooling die Kontrolle über vieles hatten, sehr schwer – aber ich bitte Sie: Lassen Sie los, jetzt erst recht. So hat Ihr Kind eine Chance, sich selbst zu organisieren und eigenständig die Kompetenzen zu entwickeln, die es benötigt, um mit den heutigen Anforderungen zurechtzukommen. Kinder können Selbstwirksamkeit erfahren, wenn sie weder Marionette der Eltern noch der Lehrer:innen sind.

Morgendlicher Stress – und wie es besser geht

Ein einfaches Beispiel hierzu: Yasmin – sie steht hier exemplarisch für alle Mütter und Väter – erwartet von Mats, ihrem achtjährigen Sohn, dass er mit vollständig gepacktem Schulranzen morgens in die Schule geht, alle Elternbriefe rechtzeitig zeigt und sich auf schriftliche Lernzielkontrollen vorbereitet.

Was Yasmin nicht machen sollte: Morgens, kurz vor der Abfahrt zur Schule, lässt sich Yasmin Mats' Ranzen geben, um alles einmal kurz zu kontrollieren. Da fehlen ihrer Meinung nach jedoch zwei Dinge, sodass sie Mats (schon leicht unter Zeitdruck stehend) auffordert: "Hol bitte schnell das Matheheft und deinen Füller, den habe ich in der Küche gesehen, bitte bringe ihn auf dem Weg gleich mit."

Yasmin entdeckt dabei noch einen Brief der Klassenlehrerin, der scheinbar schon vier Tage in der Postmappe ist. Die darin angeforderten 7 Euro für den Theaterbesuch steckt Yasmin schnell in einen Briefumschlag, leider hat sie nur 10 Euro und kein passendes Kleingeld. Oje, auch soll heute ein Mathetest geschrieben werden, geübt hat sie mit Mats nicht dafür. Verärgert schimpft sie Mats aus, er möge doch zuverlässiger sein und dass das heute mit dem Test ja auch nichts werden könne, da er vergessen habe, mit ihr zu üben.

Viel zu knapp kommen Mutter und Sohn in der Schule an. Mats kommt zu spät, der Test hat schon begonnen. Mats guckt verzweifelt auf das Blatt und die Aufgaben, von denen er meint, dass er sie wohl nicht mehr schafft. Die Zeit ist zu kurz, und geübt hat er auch nicht. Mats weint und mag nicht loslegen. Zu aussichtslos scheint ihm die Lage. 

Gehen wir davon aus, dass Mats eine pädagogisch erfahrene Lehrkraft hat, dann könnte dieses Szenario folgen: Die Lehrerin kommt und ermutigt Mats zu beginnen. Der Junge erklärt der Lehrerin, dass die Zeit nicht mehr reiche und er nicht geübt habe. Die Lehrerin entgegnet: "Macht nichts, ich weiß, dass du es kannst, du hast gut aufgepasst und genug im Unterricht geübt. Die Zeit reicht für dich dicke."

Mats atmet tief durch und startet den Test. Er ist viel einfacher als gedacht. Mats ist erleichtert, er wird immer ruhiger. Als die Lehrerin den Hinweis gibt, dass nur noch zehn Minuten bis Stundenende sind, ist er schon bei der letzten Aufgabe angekommen. Drei Tage später bekommen die Kinder den Test zurück. Mats hat alles richtig!

Gemeinsam über den Schultag reflektieren

Kinder sollen lernen, sich selbst zu organisieren. Sie sollen herausfinden, wie sie eigenständig zu Lösungen kommen, und wie sie es schaffen, mit den Anforderungen zurechtzukommen. Besonders wichtig ist, dass Ihr Kind eine gute Lehrkraft hat, die dies mit den Kindern übt. Es ist jedoch genauso wichtig, dass Sie Ihr Kind auf diesem Weg unterstützen! Das heißt genauer gesagt, dass Sie Ihrem Kind dabei helfen, Strukturen aufzubauen und Lösungswege zu finden. Wie hätte Yasmin also anders reagieren können?

Im Verlauf des Tages nach der Schule sollte Yasmin ein ritualisiertes Zeitfenster mit Mats haben, in dem sie mit ihm auf den tagesaktuellen Schultag blickt. Was war los in der Schule, gibt es etwas vorzubereiten, was steht in der Woche noch an, hat es einen Elternbrief gegeben? Was hat Spaß gemacht? Was war schwer oder unangenehm? Was muss in den Schulranzen für den nächsten Tag? Ist die Federtasche noch vollständig? Yasmin spricht mit Mats über all dies. Mats selbst bestückt dann seinen Ranzen, schaut auf den Stundenplan und gibt seiner Mutter aus der Postmappe den Elternbrief. Mats weiß, dass er am folgenden Tag einen Mathetest schreibt. Yasmin fragt lediglich nach, ob er alles kann oder noch einmal üben muss. Mats formuliert selbst seine Ziele und wie er dahin kommen möchte.

Kinder müssen die Aufgabenstruktur verstehen

Er selbst führt die Handlungen dafür aus und macht dies selbstgesteuert und ohne direkte Handlungsanweisungen der Mutter. Und wenn er dann zu wenig geübt hätte und nicht an alles gedacht haben sollte, dann erfährt er dies auch selbst. Mutter und Sohn können dann im Rückblick gemeinsam überlegen, wie Mats es in Zukunft besser hinbekommen kann. Das fällt Yasmin sehr schwer. Eigentlich möchte sie alles kontrollieren und im Griff haben. Aber loszulassen und zu vertrauen und gegebenenfalls nachzusteuern ist hier auf Dauer deutlich effektiver.

Beim Lernen geht es hierbei nicht in erster Linie darum, die Inhalte oder das Verfahren zu können, sondern zu lernen, wie man sich selbst die Inhalte, also den Lernstoff, aneignen kann, beziehungsweise darum, einen eigenen Lösungsweg zu finden. Erst im zweiten Schritt geht es um das Üben, Wiederholen und Festigen. Es hilft wenig, zum Beispiel das kleine Einmaleins auswendig zu lernen, wenn man vorher nicht begriffen hat, welche Struktur sich dahinter verbirgt. Warum sind 3 x 3 = 9? Ein Kind lernt vorerst die Aufgabe 3 + 3 + 3 = 9. Es zählt so lange und braucht dafür auch vorerst so lange Anschauungsmaterial, bis das Gehirn abstrahiert und automatisiert.

Dafür ist das Üben so wichtig – nach dem Verstehen. Die Struktur, die hinter der Aufgabe steckt, muss also unbedingt vorher begriffen worden sein. Das ist elementar wichtig, damit das Kind später mathematisch weiterdenken kann und nicht lediglich Aufgabenformate auswendig lernt.

Noch ein einfaches Beispiel aus der Mathematik: Ein Kind würfelt eine Fünf. Im ersten Schritt zählt es die Punkte. Langsam prägt sich das Bild der fünf Augen auf dem Würfel beim Kind ein, bis es dann sofort sieht, dass eine Fünf eines Würfels eine Fünf ist. Dafür muss es aber mehrmals die Fünf gewürfelt haben und mehrmals gezählt haben.

Selbstwirksamkeit erfahren – ohne zu viel elterlichen Einfluss

Selbstwirksamkeit zu erfahren ist also einer der Schlüssel, um erfolgreich zu lernen. Mein Rat an Yasmin und an alle Eltern ist: Vertrauen Sie Ihrem Kind, bestärken Sie es, lassen Sie es seinen eigenen Weg finden! Sie können die Kinder unterstützen, indem Sie mit ihnen reflektiert Lösungswege für die Schule, aber auch für den Alltag finden. Sie haben dabei auch eine erzieherische Aufgabe: Es gibt Vorgaben und auch Ziele, die durch Eltern, die Schule oder andere Institutionen gesetzt werden. Die Frage ist hierbei immer, wie man es schafft, die Vorgaben einzuhalten oder ein Ziel – ob selbst gesteckt oder vorgegeben – zu erreichen. 

Ein weiterer Rat: Formulieren Sie realistische Ziele mit Ihrem Kind! Nichts ist schlimmer, als sich immer wieder Ziele zu setzen, die nicht eingehalten werden können. Manches geht einfach nicht. Man kann von einem Kind, welches kurzsichtig ist, nicht erwarten, dass es aus der letzten Reihe etwas vom Smartboard ohne Brille liest. Das geht einfach nicht! Was ist also leistbar? 

Eine stete Überforderung macht das Erfahren von Selbstwirksamkeit unmöglich. Wenn ein Kind erfährt, dass es ein selbst gestecktes Ziel mit seinen vorher überlegten Schritten erreicht, wird es stark und selbstbewusst. Die "richtigen" Ziele mit Ihrem Kind für Ihr Kind zu finden verlangt nach einem hohen pädagogischen Geschick der Lehrkraft und einem großen Maß an Zuversicht und Vertrauen von Ihnen in Ihr Kind. Und natürlich muss alles auch in Ihren Alltag passen, und auch die Ziele der Eltern müssen hier realisierbar sein. 

Frusttoleranz üben und Resilienz lernen

Deshalb: Wenn Sie nicht jeden Tag die Zeit finden, mit Ihrem Kind den Schulalltag zu reflektieren, dann vielleicht einmal in der Woche. Nur nicht morgens kurz vor Abfahrt und unter Zeitdruck.

Nun kann ja aber auch immer mal wieder etwas schiefgehen. Nehmen wir an, Ihr Kind – oder Mats, um bei unserem Beispiel zu bleiben – kommt traurig und enttäuscht nach Hause. Karlo will nicht mehr mit ihm spielen, im Wochendiktat hat er 20 Fehler, und bei der Wahl seines Nachmittagskurses hat er nur seinen Drittwunsch erhalten.

Es können Dinge schiefgehen oder eigene Erwartungen an sich selbst nicht erreicht worden sein, und es gibt immer mal wieder Streit mit Freund:innen oder Schulkamerad:innen. Das ist erst einmal normal. Hier kommt das Zauberwort "Resilienz" ins Spiel. In der Resilienzforschung wird untersucht, warum einige Menschen widerstandsfähiger sind gegen Stress oder negative Einflüsse. Man spricht bei der Resilienz auch vom Immunsystem der Seele. 

Was kann Yasmin also tun, wenn Mats enttäuscht nach Hause kommt, weil er lediglich den Drittwunsch bei der Wahl seines Nachmittagskurses erhalten hat und nie wieder in die Schule möchte und behauptet, seine gesamten Ferien wären jetzt ruiniert? Was können Sie alle tun, wenn Ihren Kindern Ähnliches passiert?

Nehmen Sie den Kummer und die Enttäuschen ernst, zeigen Sie Verständnis. Für Kinder ist es aber wichtig zu lernen, dass es nicht schlimm ist, nur den Drittwunsch zu bekommen. Sie sollten es aushalten, dass Ihr Kind enttäuscht ist, und Verständnis für die Enttäuschung zeigen, aber auch darauf hinweisen, dass man sich jetzt zwar ärgert – dieser Ärger aber auch verfliegt. Für Mats ist es in diesem Fall wichtig zu verstehen, dass hier nichts zu machen ist. Anrufe der Mutter bei der Ganztagkoordination oder gar das Versprechen an Mats, dass sie versucht, ihn noch in seinem Erstwunsch-Kursus unterzubringen, würden Mats nicht helfen, auch wenn sie es eventuell sogar schaffen würde, ihn dort mit ein bisschen Druck noch unterzubringen.

Fehler dürfen sein

Auch die 20 Fehler im Diktat sind nicht schlimm. Dies sollten Sie vermitteln – und gemeinsam überlegen, warum es so viele Fehler gibt. Wenn Ihrem Kind die Rechtschreibung schwerfällt, können Sie vereinbaren, häufiger gemeinsam zu üben. Ein Ziel könnte sein, im nächsten Diktat mindestens einen Fehler weniger zu machen oder nicht schlechter zu werden. Sie können sich an die Deutschlehrkraft wenden und nach Hilfe und Unterstützung fragen. Eventuell können Förderungen implementiert oder gar ein Nachteilsausgleich gegeben werden. Wenn Ihr Kind allerdings in der Nacht vor dem Diktat bei seinem Freund oder seiner Freundin übernachtet und kaum geschlafen hat, gilt es zu überlegen, ob es nicht sinnvoll wäre, vor dem nächsten Test lieber im eigenen Bett zu schlafen.

In jedem Fall sollten Sie den erlebten negativen Geschehnissen einen positiven Rahmen geben und als Übung für die Zukunft umdeuten. Ein möglicher Ansatz: Wie kann Ihr Nachwuchs den Vorfall nutzen, damit sich ein ähnlicher Vorfall so nicht wiederholt? Oder, sollte ein ähnlicher Vorfall doch noch einmal vorkommen, lautet die Frage: Was ist zu tun, damit dieser Vorfall Ihr Kind nicht noch einmal aus der Bahn wirft?

Selbstwirksamkeit zu erleben und Resilienz zu erfahren sind zwei elementare Dinge, um gut durch die Schule zu kommen. Gehen Sie davon aus, dass Ihr Kind seinen Weg finden wird, auch wenn es den ein oder anderen Umweg nimmt. Denn manchmal ist genau dieser Umweg der richtige Weg zum Ziel. Unterstützen Sie Ihr Kind, indem Sie ihm immer wieder zeigen, dass es mit seinen Stärken und Schwächen ein ganz wunderbarer Mensch ist. 

Herzliche Grüße, Ihre Eva Baier

Unsere Expertin und Gastautorin

Eva Baier war lange Klassen- und Fachlehrerin, leitet heute eine Hamburger Grundschule. Außerdem ist sie Referentin am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung.