#MeToo in der Schule

Machtmissbrauch durch Lehrer: "Mein Deutschlehrer hat mich über 10 Jahre lang belästigt"

Ein guter Lehrer ist engagiert, fördert seine Schüler und bereitet sie aufs Leben vor. Doch was, wenn Pädagogen ihre Macht ausnutzen und immer wieder Grenzen überschreiten? Eine Betroffene erzählt von jahrelangem Machtmissbrauch durch ihren Deutschlehrer und verrät, wie sich Opfer wehren können.

Schülerin liest Nachricht auf ihrem Handy© iStock/Georgijevic
Die meisten Opfer schweigen über den Missbrauch.

Wenn Britta Rotsch ihr E-Mail-Postfach öffnet, findet sie darin einen Ordner, in dem sie alle Mails archiviert hat, die ihr Lehrer ihr über mehr als zehn Jahre geschrieben hat. Die Betreffzeilen lauten "Kaffee-Date", "Traum" oder "Sternstunde".

"Mein Deutschlehrer hat mich während der Oberstufenzeit emotional manipuliert, und das so lange, bis ich ihm auf eine gewisse Weise 'verfallen' war und auf seine Avancen teilweise einging", schreibt die Journalistin und Autorin in ihrem Buch ("Wenn Lehrer Grenzen überschreiten: Über Machtmissbrauch in der Schule"). 

Ihren Lehrer beschreibt sie als einen Mann Ende 50, den etwas "Unheimliches, ja, etwas Ekelhaftes" umgibt. Er überschüttet sie mit Aufmerksamkeit, sie fühlt sich durch sein Interesse an ihr gesehen und besonders. Geschmeichelt. Angezogen von seinem Intellekt, seiner Weltgewandtheit. Gleichzeitig schämt sie sich, gibt sich selbst die Schuld, weil sie keine eindeutigen Grenzen zieht. Und befürchtet, im Unterricht benachteiligt zu werden, wenn sie nicht auf seine Annäherungsversuche eingeht.

#MeToo in der Schule

Heute weiß sie, was ihr damals wirklich widerfahren ist: Ihr Lehrer hat Grenzen übertreten und seine Macht als Autoritätsperson missbraucht. Aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen ist es ihr ein Anliegen geworden, über Machtmissbrauch an Schulen aufzuklären und dafür zu sensibilisieren.

Denn Britta Rotsch ist kein Einzelfall. Genaue Zahlen, wie viele Schülerinnen und Schüler Machtmissbrauch durch Lehrer erleben, gibt es nicht. "Das liegt daran, dass Studien zum Thema oftmals nicht zugelassen werden, weil es laut politischen Entscheidungsträgern kein Thema sei", erzählt sie mir. Gäbe es eine solche Studie, wäre zudem die Dunkelziffer sehr hoch, denn Machtmissbrauch ist nicht klar definiert. Ist es Missbrauch, auch wenn kein körperlicher Übergriff stattfand? Ist ein Lehrer einfach nur engagiert und hilfsbereit – oder übertritt er bewusst Grenzen? "Die Frage, was Machtmissbrauch eigentlich ist und wo er beginnt, ist teils individuell zu beantworten."

Die meisten Opfer schweigen

An die erste E-Mail von ihrem Deutschlehrer kann sie sich noch genau erinnern: "Du bist wunderschön. LG." Es folgen mehr als 100 weitere Mails, SMS und Anrufe – auch noch als sie längst mit der Schule fertig war –, die Britta Rotsch erst lange nach ihrem Abitur als das einordnen konnte, was sie waren: übergriffig, grenzüberschreitend, manipulativ. 

Es ist das Perfide am Machtmissbrauch: Schülerin und Schüler sind Schutzbefohlene, die darauf vertrauen, dass Lehrer es gut mit ihnen meinen und meist gar nicht ahnen, dass jemand diese Machtposition ausnutzen könnte – bis sie plötzlich mittendrin sind in einem Missbrauchsverhältnis.

Als Schülerin erzählt Britta Rotsch keinen Erwachsenen davon, was ihr passiert, vertraut sich nur ihrer besten Freundin an. Heute weiß sie: Die meisten, die so etwas erleben, schweigen – aus verschiedensten Gründen. "Sie schämen sich, dass ihnen so etwas passiert ist, dass sie mitgemacht haben", so die Autorin. "Manche fürchten Konsequenzen für sich, wenn sie den Täter melden. Das Thema ist noch immer ein Tabu, was dazu führt, dass Betroffene im Moment des Geschehens noch nicht einordnen können, was mit ihnen passiert."

Inzwischen weiß sie: "So funktioniert Machtmissbrauch. Es ist ein Teufelskreis. Es braucht einige Zeit, bis Betroffene erkennen, was passiert ist. Und dennoch: Die meisten schweigen bis heute."

Die Betroffenen leiden ein Leben lang

Wer in seiner Schulzeit Machtmissbrauch erlebt, leidet oftmals sein gesamtes Leben darunter. "Welche Auswirkungen das Erlebte hat, hängt von der Schwere des Machtmissbrauchs ab, aber auch, wie die psychische Verfassung der Betroffenen allgemein ist", so Britta Rotsch. "Habe ich eine Person, die im familiären Umfeld viel Sicherheit geschenkt bekommen hat und deren Grenzen gewahrt werden, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie den Machtmissbrauch spürt und sich wehrt oder etwas unternimmt, sich Hilfe sucht. Diese Menschen können natürlich trotzdem betroffen sein, stecken das gegebenenfalls aber besser weg."
Doch viele Täter haben ein feines Gespür dafür, bei wem ihre Masche am besten verfängt. "Oftmals werden genau die anderen Menschen von den Tätern auserkoren, die diese Sicherheit in der Familie nicht erlebten oder nicht wissen, dass sie 'Nein' sagen dürfen."

In ihren Gesprächen mit anderen Betroffenen hat sie erfahren, welche Folgen der Machtmissbrauch haben kann: Viele Frauen benötigen jahrelange Therapien, leiden unter Panikattacken oder Bindungsängsten.

"Wichtig ist zu wissen, dass es keinen Unterschied an Schwere der Auswirkungen hat, ob ein Übergriff emotional oder körperlich war. Spuren können immer bleiben", betont sie.

Welche Warnsignale auf Machtmissbrauch hindeuten

Für Außenstehende ist es oftmals schwer zu erkennen, was sich zwischen Lehrer und Schüler abspielt – und ab wann Grenzen überschritten werden. Britta Rotsch rät dazu, auf die folgenden Warnzeichen zu achten: "Wenn ein Lehrer sehr engagiert ist, auch außerhalb des Unterrichts, auf Freund macht, sich mit Schüler:innen auf Social Media austauscht bzw. mit ihnen dort befreundet ist, sind das schon gute Hinweise, hellhörig zu werden." Die Grenzen verlaufen allerdings oftmals fließend: 

 Es ist ein schmaler Grat, denn engagierte Lehrer sind nicht per se Täter.

Ein erster wichtiger Schritt ist, dass sich Eltern über die Lehrerinnen und Lehrer erkundigen, sich mit dem Kind austauschen, nachfragen.

Vertraut sich ein Kind einem Elternteil an, gilt es, zunächst aufmerksam zuzuhören und ihm Glauben zu schenken. "Wenn das Kind fordert, dass Eltern nichts tun sollen oder ebenfalls schweigen, ist hier allerdings Gegenteiliges richtig. Deshalb gibt es uns Erwachsene: Wir tragen die Verantwortung und wissen, was zu tun ist. Auch wenn das Kind kurzzeitig vielleicht böse oder enttäuscht ist, später wird es verstehen und wissen, dass sie alles getan haben, um es zu schützen."

Hier finden Betroffene Hilfe

Wer von Machtmissbrauch durch einen Lehrer betroffen ist, sucht sich am besten juristische Hilfe. In einem Opferverein finden Betroffene ebenfalls Unterstützung. "Auch die Schulleitung sollte involviert werden, denn vom Gesetz her gibt es sogenannte Schutzkonzepte. Dort sind Handlungsschritte festgehalten, was in einem Fall eines Machtmissbrauchs zu tun ist", erklärt Britta Rotsch. "Nicht nur Eltern haben eine Verantwortung gegenüber ihren Kindern, auch Schulen müssen ihre Schüler:innen schützen."

Heute weiß Britta Rotsch, was sie ihrem jugendlichen Ich raten würde: "Ich würde mich einer erwachsenen Person anvertrauen, weil viele Freundinnen von mir damals ebenfalls nicht Bescheid wussten, was passiert. Oft wusste ich nicht, wie mir geschieht, aber alleine das Gefühl, mein Bauchgefühl verrieten mir in unsicheren Momenten: 'Hier stimmt etwas nicht, pass auf!' Wir alle spüren solche Momente. Wenn Betroffene das bemerken, wird es Zeit, sich Hilfe zu suchen. Glaubt man, niemanden zu haben, geht auch ein Anruf bei der Telefonseelsorge oder einer anderen Organisation."

Über Britta Rotsch
Britta Rotsch

Britta Rotsch (*1987) arbeitet als Journalistin für Print, Hörfunk und Podcasts in Wien und absolviert eine psychotherapeutische Ausbildung.

Mehr Infos unter www.brittarotsch.com

Foto: Inke Johannsen