
"Das hat doch gar nicht wehgetan", "Natürlich bist du müde", "Du kannst noch gar nicht satt sein". Hand aufs Herz: Unbedachte Sätze wie diese sind wohl allen Eltern schon mal rausgerutscht. Manchmal glauben Eltern, sie wüssten besser Bescheid, wie es ihren Kindern geht, als die Kinder selbst. Doch da bewegen sie sich auf ganz dünnem Eis. Einerseits ist es gerade bei kleinen Kindern unerlässlich, dass wir ihre Bedürfnisse erkennen und sie gewissermaßen lesen lernen. Andererseits hingegen ist es genauso wichtig, ihre Äußerungen und Wünsche ernstzunehmen und zu akzeptieren. Wenn Kindern ständig ihre Gefühle abgesprochen werden, wirkt dies manipulativ. Die Bezeichnung dafür, die derzeit in aller Munde ist, ist Gaslighting.
Woher stammt der Begriff "Gaslighting"?
Bella Manningham beschleicht das Gefühl, langsam den Verstand zu verlieren. Ständig verlegt sie ihre Sachen, bildet sich ein, Schritte zu hören, und glaubt, im Haus würden die Gaslampen flackern. Ihr Ehemann redet ihr ein, sie würde halluzinieren. Doch in Wahrheit treibt er ein böses Spiel mit ihr. Er selbst steckt hinter den rätselhaften Vorfällen. Das ist in groben Zügen der Plot des Theaterstücks "Gaslight" des englischen Autors Patrick Hamilton aus dem Jahr 1938. Die Geschichte des manipulativen Ehemanns wurde bereits zweimal verfilmt. In Anlehnung an das Stück prägten die US-Psycholog:innen Gertrude Zemon-Gass und William Nichols in den 80er Jahren den Begriff "Gaslighting". Gemeint ist damit der Versuch, andere gefügig zu machen, indem man sie gezielt verunsichert und Zweifel an ihrer Wahrnehmung und Urteilsfähigkeit säht. Menschen, die auf diese Weise manipuliert werden, bekommen mit der Zeit das Gefühl, sich nicht auf sich selbst verlassen zu können. Es entsteht ein Abhängigkeitsverhältnis vom Manipulator. Häufig findet sich dieses Muster in Paarbeziehungen; meist sind Frauen die Opfer. Doch das Schema lässt sich auch auf die Eltern-Kind-Beziehung übertragen.
"Der Gaslighting-Effekt wirkt zutiefst destabilisierend", erklärt die US-Psychotherapeutin Robin Stern.
Gaslighting in der Erziehung: Typische Sätze und Beispiele
- "Das hat doch gar nicht wehgetan. Los, steh wieder auf."
- "Du kannst noch gar keinen Hunger haben. Du hast doch gerade etwas gegessen."
- "Das kannst du noch nicht, dafür bist du zu klein."
- "Das hat mir früher auch nicht geschadet, also schadet es dir auch nicht."
Vermutlich haben wir in unserer Kindheit mindestens einen dieser Sätze einmal gehört – und möglicherweise unbedacht auch schon unserem eigenen Kind gegenüber fallen lassen. Es schadet Kindern auch nicht unmittelbar, wenn uns einer dieser Sätze mal rausrutscht. Schwieriger wird es, wenn es oft passiert. Kinder werden auf diese Weise desorientiert und verlernen, ihrer eigenen Wahrnehmung zu vertrauen.
Letztlich können nur Kinder selbst ihre Bedürfnisse kennen. Eltern wissen nicht, ob ihr Kind wirklich Hunger verspürt, friert oder Schmerzen hat.
Weitere Beispiele für Gaslighting
- Ein Kind erzählt seinen Eltern von einem Vorfall in der Schule, bei dem es gemobbt wurde. Die Eltern reagieren jedoch mit Unverständnis und behaupten, dass das Kind übertreibt oder sich die Situation nur einbildet.
- Ein Teenager möchte einen bestimmten Beruf ergreifen, aber seine Eltern lehnen dies ab und behaupten, dass er nicht die Fähigkeiten oder das Talent dafür hat. Sie machen ihm Vorwürfe und versuchen, ihn von seinem Traum abzubringen.
- Ein Kind wird von seinen Eltern ständig kritisiert und herabgesetzt. Sie machen dem Kind klar, dass es nie gut genug ist.
- Ein Kind beschuldigt seine Eltern des Missbrauchs oder der Vernachlässigung, aber die Eltern drehen den Spieß um und behaupten, dass das Kind lügt oder überreagiert. Sie stellen das Kind als unzuverlässig dar und versuchen, seine Glaubwürdigkeit zu untergraben.
- Ein Kind äußert seine Meinung zu einem bestimmten Thema, aber die Eltern ignorieren es oder machen es lächerlich. Sie behaupten, dass das Kind zu jung oder unerfahren ist, um eine eigene Meinung zu haben.
Gaslighting: Eng verwandt mit Adultismus
Gaslighting liegt eine Form der Machtausübung zugrunde. Man wird ausgerechnet von der Person manipuliert, die einem nahesteht. Es ist nicht selten, dass die Machtungleichheit zwischen Erwachsenen und Kindern zu Diskriminierung führt. In diesen Fällen spricht man auch von Adultismus. Dabei wird das Kind aufgrund seines Kindseins diskriminiert, da dem Erwachsenen andere Recht zugestanden werden als dem Kind. Beispiel: Vom Kind wird erwartet, seine Gemüsesuppe aufzuessen, während Erwachsene das Recht haben, ein ungeliebtes Gericht abzulehnen. Die Benachteiligung der Kinder wird oftmals nicht als ungerecht bewertet, da die Erwachsenen davon ausgehen, dass sie über mehr Wissen verfügen.
Gaslighting ist eng damit verwandt. Kindern werden oftmals unbedacht ihre eigenen Gefühle abgesprochen, da Erwachsene glauben, es besser zu wissen.
Der Begriff Gaslighting hat sich in den vergangenen Jahren stark verbreitet und wird deutlich häufiger genutzt als in der Vergangenheit. Dass der Ausdruck derart an Relevanz gewonnen hat, liegt vermutlich daran, dass viele Menschen das unbestimmte Gefühl haben, bereits einmal fremdbestimmt oder in die Irre geführt worden zu sein. Durch den Terminus Gaslighting wird dieses manipulative Verhalten entlarvt.
Die Grenzen sind fließend
Manipulation ist im Grunde genommen eine soziale Fähigkeit. Dadurch veranlassen wir Menschen zu Dingen, die sie sonst nie täten. Es ist also nicht verwerflich, Kinder zu bezirzen oder sie spielerisch dazu zu bewegen, ihre Jacke anzuziehen oder ihr Zimmer aufzuräumen. Heikel wird es erst, wenn Eltern kein Nein akzeptieren und auf ablehnendes Verhalten mit Wut und Vorwürfen reagieren.
Wie Eltern Gaslighting vermeiden
Wenn Kinder einbezogen werden, nach ihrer Meinung, ihren Gefühlen und Vorlieben gefragt werden, entwickelt sich eine Diskussionskultur, in der sie als wertgeschätztes und gleichwertiges Mitglied der Familie angesehen werden. Diese Selbstwirksamkeitserfahrung ist eine wichtige Basis für die Entwicklung von Selbstvertrauen, Durchsetzungsstärke und Kompromissbereitschaft.