Interview mit Inke Hummel

"Mama, ich hab Angst" – Richtig reagieren auf Kinderängste

Ängste gehören zum Leben dazu – doch auf den richtigen Umgang damit kommt es an. Inke Hummel erklärt, wie Eltern ihre Kinder unterstützen können, ihre Angst zu bewältigen.

Das Angstmonster kann jederzeit auftauchen. Auf der großen Rutsche auf dem Spielplatz. Beim Kinderarzt. Beim Einschlafen. In der Kita. Das Herz klopft, die Hände werden zittrig. Und manchmal folgt es einem auf Schritt und Tritt. Es verdirbt den Appetit, schleicht sich in die Träume und bringt alle Gefühle durcheinander. Gerade wenn man noch so klein ist, kann sich Angst riesengroß und überwältigend anfühlen.

Kinder müssen einen guten Umgang mit ihren Gefühlen erst lernen – das gilt für Wut und Frustration genauso wie für Ängste. Damit sie die richtigen Strategien entwickeln können, sind sie auf die Unterstützung ihrer Eltern angewiesen. Doch dazu müssen sie erstmal erkennen, was in ihrem Kind gerade vorgeht. Denn kindliche Ängste sind für uns Erwachsene auf den ersten Blick oft nicht nachvollziehbar – und sie können ganz unterschiedliche Gesichter haben.

So zeigen sich Ängste bei Kindern

"Entweder wird das Kind sehr deutlich zeigen, dass es Angst hat, weil es körperlich reagiert, zum Beispiel schwitzt, steif wird, die Augen aufreißt oder auch Bauchweh bekommt, schreit, wegrennt, sich anklammert. Oder man merkt es daran, dass das Kind den Angstauslöser vermeiden will, indem es das Thema wechselt, etwas Bestimmtes partout nicht machen möchte, Ausreden erfindet“, erklärt Inke Hummel, Familienberaterin und Autorin ("Deine Angst, meine Angst: Die Gefühle deines Kindes sicher begleiten. Deine eigenen Ängste nicht übertragen").

Komplizierter wird es, wenn sich Ängste weniger eindeutig zeigen. "Manchmal kann auch ein wenig Detektivarbeit notwendig sein, denn Angst kann sich auch maskieren und beispielsweise eher wie aggressive Wut aussehen", weiß die Expertin. Ein Merkmal haben jedoch alle Spielarten der Angst gemeinsam: "Auf jeden Fall fällt das Kind durch eine ungewöhnliche Verhaltensweise auf."

Um Angst zu zuverlässig zu dechiffrieren, ist es wichtig, auch das jeweilige Alter des Kindes im Hinterkopf zu behalten. "Kleine Kinder zeigen Angst in der Regel sehr deutlich körperlich und unmittelbar. Sie suchen unbedingt Nähe zu ihrer Bezugsperson. Je älter die Kinder werden, desto eher werden sie ihre Angst auch formulieren", so Inke Hummel.

Der richtige Umgang mit Kinderangst

Wenn ein Kind Angst zeigt, ist es an den Eltern, die Gefühle anzuerkennen, ernstzunehmen und sicher zu begleiten. Gerade wenn Erwachsene in ihrer eigenen Kindheit keine sinnvollen Strategien zum Umgang mit Ängsten gelernt haben, wird es ihnen schwer fallen, angemessen auf ihre Kinder einzugehen. "Ängste werden verharmlost mit einem 'Stell dich nicht so an!', es werden Gefühle also kleingeredet und vielleicht mit Druck gearbeitet: 'Jetzt mach einfach!'"

Dabei wissen wir alle: Wenn sich Ängste breitmachen, hilft ein lapidares "Hab keine Angst" herzlich wenig. Noch schlimmer ist es, Kinder für ihre Gefühle zu beschämen ("Du Angsthase"). Ein konstruktiver Umgang will gelernt sein und ist komplex.

Auch das andere Extrem ist nicht hilfreich: "Es kann passieren, dass Eltern sich für den Umgang mit Ängsten zu sehr verantwortlich fühlen und ihr Kind nicht stärken, sondern ihm alles abnehmen. Dabei ist Hilfe zur Selbsthilfe der richtige Weg: von der Co-Regulation zur Selbstregulation."

Selbstregulation erfolgt durch die folgenden drei Schritte:

  • Angst erkennen
  • sich beruhigen
  • bewusst und gezielt sinnvoll handeln

Erst etwa im Grundschulalter sind Kinder in der Lage, die meisten Angstmomente akut allein zu bewältigen. 

Ängste in den Griff bekommen

Einige Ängste sind alterstypisch und verschwinden oft von allein wieder: "Es gibt typische Phasen bei Kindern, wie zum Beispiel die magische Phase mit etwa 4, 5 Jahren, wo Angst vor Monstern oder Gespenster häufig ist, und mit geistiger Reifung wird das anders. Oder die Zeit der Auseinandersetzung mit dem Tod mit 5 oder 6 Jahren. Die Themen werden weniger relevant."

Bei den meisten anderen Ängsten ist jedoch entscheidend, dass Kinder lernen, wirksam damit umzugehen. Inke Hummel rät zu einem 6-Schritte-Plan, den sie in ihrem Buch ausführlich erklärt.

6-Schritte-Plan, um Ängste zu bewältigen:

  • Wissen: Wer seine Ängste kennt und weiß, was dahintersteckt, hat bereits einen wichtigen ersten Schritt getan.
  • Helfen: Eine Bezugsperson, die in akuten Angstmomenten zur Stelle ist, ist die beste Unterstützung.
  • Wahrnehmen: Mit ein wenig Übung können Eltern früh erkennen, wenn Angst in ihrem Kind aufsteigt.
  • Planen: Wie kann ich mich verhalten, wenn die Angst wieder auftritt? Mit welchen Tricks gelingt es, körperlich und mental Ruhe zu bewahren?
  • Üben: Die Strategien in der Praxis austesten. Die Begleitung durch die Eltern ist dabei (zunächst noch) unerlässlich.
  • Nachbereiten: Wie gut hat mein Umgang mit der Angst geklappt? Was könnte ich besser machen? Ältere Kinder können in diese Reflexion eingebunden werden, bei jüngeren Kindern übernehmen die Eltern.

Angst wird weniger bedeutsam, wenn ich weiß, was ich machen kann, wenn ich dem Angstauslöser begegne.

Wie sich Ängste im Erwachsenenalter zeigen

Auch wenn so manche Angst mit den Jahren verschwinden – lernen wir keinen gesunden Umgang damit, wird sich das Grundgefühl auch im Erwachsenenalter immer wieder breitmachen. Ängste und Unsicherheiten treten in unterschiedlichen Situationen wieder auf und geben uns ein Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht.

"Meistens werden die Themen und Angstauslöser nicht unbedingt die gleichen sein", erklärt Inke Hummel. "Das Problem ist eher, dass keine sinnvollen Strategien erlernt worden sind, so dass im Erwachsenenalter eine unheilvolle Meldung in den Nachrichten die gleichen schlimmen Gefühle auslösen kann wie der gemeine Junge damals im Kindergarten."

Aber manchmal begleiten uns bestimme Themen auch lebenslang, zum Beispiel die Angst vor Verlusten oder die Angst vor Höhe oder Wasser. 

Laut der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde haben in Deutschland zwölf Millionen Menschen – 21 Prozent der Frauen und 9 Prozent der Männer – eine Angsterkrankung, wie Panikattacken, generalisierte Ängste oder eine Phobie. Die Betroffenen ziehen sich meist immer mehr zurück. Oftmals ist therapeutische Hilfe unvermeidlich. 

"Häufig werden Erwachsene dann ähnlich reagieren wie im Kindesalter: vielleicht panisch, vielleicht aggressiv, vielleicht vermeidend", weiß Inke Hummel. Gerade weil Ängste zum Leben dazugehören, ist es wichtig, einen gesunden Umgang mit ihnen zu verinnerlichen. Damit das Angstmonster zu einem friedlichen Begleiter wird.