Bedürfnisorientierte Erziehung

Erziehungsexpertin nennt die eine Voraussetzung, damit Kinder nicht zu kleinen Tyrannen werden

Die Forschung ist sich einig: Ein Erziehungsstil, geprägt von liebevoller Unterstützung und zugewandter Führung, ist die beste Voraussetzungen für eine gesunde kindliche Entwicklung. Dennoch wird die bedürfnisorientierte Erziehung von vielen immer noch belächelt. Eine Expertin erklärt, wie Eltern Kritik gelassen kontern können.

Mädchen lächelt in die Kamera.© iStock/AzmanL
Durch bedürfnisorientierte Erziehung bietet Kindern die beste Voraussetzung, um glücklich aufzuwachsen.

Es gibt Begriffe, die werden so häufig verwendet, dass niemand mehr so richtig hinterfragt, was sie eigentlich bedeuten. Bedürfnisorientierte Erziehung ist so ein Ausdruck.

Das Baby nicht schreien lassen, nach Bedarf füttern, Wutanfälle begleiten, Einschlafbegleitung, Familienbett – all das ist für die allermeisten Eltern nichts Neues mehr. Aber: Es kursiert auch eine Menge gefährliches Halbwissen.

Bei dem Wort Bedürfnis denken viele zunächst einmal nur an ihr Kind. Und genau das ist ein Trugschluss, der in vielen Familien zu Stress führen kann – und dazu, dass sie früher oder später an dem Konzept der bedürfnisorientierten Erziehung zweifeln. "Innerhalb der bedürfnisorientierten Bubble war und ist das größte Missverständnis, dass hierbei lediglich die kindlichen Bedürfnisse Beachtung finden würden", erklärt Michèle Liussi, Psychologin und Familienbegleiterin. Eine solche Kindzentrierung werde zurecht kritisiert – besonders dann, wenn Mütter daran auszubrennen drohen. "Tatsächlich ist es so, dass die bedürfnisorientierte Erziehung das große Ganze im Blick hat, die Bedürfnisse des einzelnen Familienmitglieds, die des Familiensystems und die der sozialen Gemeinschaft, in der man lebt", erklärt die Expertin. Achtsamkeit ist das Stichwort.

Zündstoff zwischen den Generationen

Um den Bedürfnissen aller gerecht zu werden, sind Konflikte unvermeidlich – was im Gegensatz zu der Annahme steht, bedürfnisorientierte Erziehung sei immer nur Friede, Freude, Eierkuchen. "Eine Familie, in der alle Mitglieder mit ihrem Gedanken, Gefühlen und Bedürfnissen Beachtung finden, kann gar nicht ohne Konflikte auskommen", erklärt Michèle Liussi.

Wer bedürfnisorientiert erzieht, wird vor allem von der älteren Generation oftmals kritisch beäugt. So erzogene Kinder werden unselbständig, egoistisch, kleine verzogene Tyrannen, heißt es. Die Liste der Vorurteile ist lang. Michèle Liussi kennt die Klischees: "Eltern sehen sich mit dem Vorwurf konfrontiert, sie würden ihr Kind verwöhnen, ihm keine Grenzen setzen und überhaupt ist alles weichgespült, was wir tun. Als Vorbereitung auf das harte Erwachsenenleben, in dem man bekanntlich 'nichts geschenkt' bekommt, absolut untauglich."

Genau diese allgegenwärtigen kritischen Stimmen führen oftmals dazu, dass Eltern ihren Erziehungsstil infrage stellen. "Ich wage zu behaupten, dass es sehr viele Situationen gibt, in denen Eltern zweifeln", so die Expertin. Wenn sie wiederholt mit ihrem Kind über die selbe Sache streiten. Wenn sie von anderen Familienmitgliedern, Freunden, den Erziehern in der Kita kritisiert werden. Wenn das Kind Schwierigkeiten hat oder ein Wutanfall mal wieder völlig eskaliert. Wenn der Partner oder die Partnerin nicht mitzieht. "Eltern kommen an ihre Grenzen, weil sie selbst kein Vorbild für diesen Weg haben, und während sie ihr Kind versuchen liebevoll zu begleiten, auch noch ihr inneres Kind heilen und alte Muster durchbrechen müssen. Nennt das Kind uns dann 'Schei* Mama' oder 'Schei* Papa', schreit alles in uns: 'So redest du nicht mit mir!!!' – vornehmlich mit der Stimme des eigenen Vaters oder der eigenen Mutter", erklärt sie.

Bedürfnisorientierte Erziehung gilt als zeitgemäß 

Wer heute ein Kind großzieht, wurde in vielen Fällen selbst noch ganz anders erzogen. "Während wir uns heute sehr viel mehr mit Entwicklungspsychologie auseinandersetzen und daher meistens ziemlich gut einschätzen können, was unsere Kinder können und was wir noch nicht erwarten dürfen, gibt es darüber noch ziemlich viele Fehlannahmen in der Vorgängergeneration", weiß Michèle Liussi. Beispiel: Die gängige Annahme, dass ein weinendes Baby versucht, seine Eltern zu manipulieren – "etwas von dem wir heute wissen, dass das kognitiv noch überhaupt nicht möglich ist".

Kindern die Freiheit zu geben, sich ihrem ganz eigenen Wesen entwickeln zu dürfen – darum geht es in der bedürfnisorientierten Pädagogik. "Wir sehen unsere Kinder nicht als formbare Lehmklumpen, sondern respektieren ihre eigene Persönlichkeit." Und das stößt bei älteren Menschen oft auf Unverständnis. 

Überall da, wo unsere Kinder von uns aus laut und frei und wild und einfach Kind sein dürfen, kollidieren die Generationen.

Sich von der Bewertung Außenstehender nicht beeindrucken zu lassen, ist oftmals nicht ganz einfach. Bei unqualifizierten Kommentaren durch Fremde rät Michèle Liussi zu Gelassenheit – und im Zweifelsfall dazu, sich gar nicht auf eine Diskussion einzulassen. Die Frage, die sich Eltern stellen sollten, wenn sie mal wieder kritisch geäugt werden, wenn ihr Kind in der Öffentlichkeit einen Wutanfall hat: "Bin ich überhaupt gewillt, für einen Konter Energie aufzuwenden?"

Was Eltern Kritikern wirksam entgegnen können

Anders sieht es aus, wenn die Kritik von einer nahestehenden Person kommt, auf deren Meinung man Wert legt. Hier hilft der Blick hinter die Kritik. "Ist es eine mir nahestehende Person, lohnt es sich, die Sorge hinter der Kritik zu erfragen. Denn von einer Sorge fühlen wir uns gleich viel weniger angegriffen als von Kritik. Außerdem ergibt sich dadurch womöglich die Möglichkeit, dass ich die Sorgen mit Wissen rund um Bindungstheorie und Entwicklungspsychologie ausmerzen kann", so Michèle Liussi.

Pädagogik ist kein Bauchgefühl, sondern eine Wissenschaft. Die Studien der letzten Jahre sprechen eine klare Sprache: "Wir erziehen unsere Kinder heute unterstützend, liebevoll zugewandt und Sicherheit spendend, weil die Forschung ergeben hat, dass dieser Weg die höchste Wahrscheinlichkeit für eine gesunde Entwicklung und das geringste Risiko für psychische Erkrankungen mit sich bringt", so die Expertin. Wer Kritik an der bedürfnisorientierten Erziehung also wirkungsvoll aushebeln will, findet die besten Argumente dafür in der Wissenschaft. "Wir schnallen uns ja auch an, weil die Forschung ergeben hat, dass damit das Risiko für schwere Verletzungen bei Auffahrunfällen sinkt. Und genauso erziehen wir."

Autoritäre Erziehung kann Tyrannen hervorbringen

Das gilt auch für das Todschlag-Argument aller Kritiker des bedürfnisorientierten Ansatzes: dass Kinder, die so erzogen werden, kleine Tyrannen werden, die keine Grenzen kennen.

"Machtmissbrauch bringt Tyrannen hervor", erklärt Michèle Liussi. "Aber liebevolle Führung? Mit Sicherheit nicht. Da ist sich die Forschung einig: Autoritäre Erziehung kann zu aggressiven und anti-sozialen Verhaltensauffälligkeiten führen. Das gleiche Risiko ist jedoch bei Betrachtung der Bedürfnisorientierung gesenkt."

Und was ist mit dem Vorwurf, dass die Kinder zu sehr verwöhnt werden? "Meint Verwöhnen eine undifferenzierte Wunscherfüllung, dann ja, damit tue ich meinem Kind keinen Gefallen. Ohne die Betrachtung der drunterliegenden Bedürfnisse bleibt eine Wunscherfüllung doch irgendwie immer nur ein Pflaster", erklärt sie. "Meint Verwöhnen Überbehüten, als das Vorwegnehmen oder Erleichtern von Herausforderungen, die ein Kind für seine Entwicklung und sein Wachstum benötigt, dann wirkt sich dieses Verwöhnen negativ auf das Selbstbewusstsein und die Selbstwirksamkeit des Kindes aus." Es gilt zu differenzieren: 

Meint Verwöhnen einen achtsamen Umgang mit Gefühlen, ein Respektieren der kindlichen Meinung und Bedürfnisse und den Versuch, prompt und adäquat auf die Bindungssignale unserer Kinder einzugehen, dann ist der Vorwurf des Verwöhnens nur eines: Bullshit.

Letztlich sei ein unschlagbares Argument für die bedürfnisorientierte Erziehung in der rasant steigenden Zahl der Therapieinanspruchnahmen zu finden. "Rückblickend sagen heute sehr viel mehr Menschen: 'Mir hat's doch geschadet …' und machen sich mit Mitte 30, Anfang 40 ans Aufarbeiten. Das treibt auch viele Eltern an, es jetzt mit ihren Kindern anders zu machen", so Michèle Liussi.

Unsere Expertin: Michèle Liussi
Michele Liussi

Michèle Liussi ist Psychologin, Autorin und Mutter eines Sohnes. Als Familienbegleiterin berät sie Eltern zu Erziehungsproblemen und rund um eine gute Eltern-Kind-Bindung.

Mehr Infos unter www.mamafuersorge.com

Foto: Christina Gaio