"Generation Angst"

Kinder und Smartphones: "Liebe Eltern, entspannt euch bitte"

In seinem Bestseller "Generation Angst" stellt Autor Jonathan Haidt einen Zusammenhang zwischen Smartphone-Nutzung und psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen her. Doch ist die Lage wirklich so ernst?

Junge beugt sich über sein Smartphone.© IStock/Orbon Alija
Immer online: Tiktok, Instagram und Co können sich negativ auf die psychische Gesundheit von Kindern auswirken.

Wenn ich mich früher mit meinen Freundinnen zum Spielen verabredete, dauerte so ein Anruf meist ungefähr 15 Sekunden: "Hallo. Wollen wir uns heute verabreden?" – "Ja. Ich komme um 15 Uhr." Die Nummern waren damals noch vierstellig, viele kannte man aus dem Kopf.

Genauso analog waren unsere Nachmittage: Mit dem Fahrrad über Feldwege radeln. Im Sommer die Füße in den Fluss halten und im Winter bis zu den Knien im Eis auf dem überfrorenen Acker einbrechen. Auf Bäume klettern und Höhlen im Heu graben.

Eine Kindheit dieser Art wünsche ich meinem Sohn auch. Mit der Freiheit, um Abenteuer zu erleben und einem Zuhause, das ihm Sicherheit gibt.

Doch das neu erschienene Buch von Jonathan Haidt, Professor für Psychologie an der New Yorker Stern School of Business, hat mir Angst gemacht. Und nicht nur mir. "Besorgte Eltern melden sich bei mir und fragen, was sie denn nun machen sollen", erklärt mir Nicola Schmidt. Denn der Autor malt in "Generation Angst" mit düsteren Farben eine Zukunftsvision für unsere Kinder, die das genaue Gegenteil von meinen Dorfkind-Abenteuern zu sein scheint.

Psychische Krankheiten nehmen stark zu

Von der "Großen Neuverdrahtung der Kindheit" schreibt er. Die Generation Z, also die ab 1995 Geborenen, nennt er die "ängstliche Generation". Ihre Kindheit habe sich von spielbasiert zu smartphonebasiert verschoben – mit verheerenden Folgen: Die psychische Gesundheit und das Wohlergehen von Kindern und Teenagern habe sich gravierend verschlechtert. Seit den 2010er-Jahren – genauer gesagt nach Einführung der Smartphones und vor allem sozialen Netzwerken – ist eine rapide Zunahme von Angststörungen und Depressionen zu verzeichnen. 

Mit "Generation Angst" hat der Autor einen Nerv getroffen. In den USA kletterte das Buch direkt nach Erscheinen auf Platz eins der "New York Times"-Bestsellerliste, und auch die deutsche Ausgabe löste sofort eine heftige Debatte aus.

Denn die Fakten, die Jonathan Haidt in seinem Buch präsentiert, machen beklommen: Die Rate von Selbstverletzungen bei Mädchen hat sich seit 2010 verdreifacht, die Suizidrate ist um 188 Prozent gestiegen – ab dem Zeitpunkt also, an dem bei Handys die Frontkamera eingeführt wurde und damit Selfies ermöglichte. Seine These: Junge Menschen werden in einer besonders verletzlichen Phase ihrer Entwicklung durch digitale Medien sozialisiert, die dem Kern des Menschseins widersprechen. Kommunikation über soziale Medien, bei denen die Mimik und Gestik des Gesprächspartners nicht erkennbar seien, wirke destabilisierend auf Kinder und Jugendliche, schreibt er. Die Generation Z sei deshalb depressiv, ängstlich, neige zu Schwarz-Weiß-Denken und sei anfälliger für autoritäre politische Ideen.

Das Smartphone allein ist nicht das Problem

Fügt das Smartphone mit all seinen Apps wie Youtube, Tiktok, Instagram und Co jungen Menschen also tatsächlich immensen Schaden zu? 

Nicola Schmidt (Autorin der "Artgerecht"-Reihe) ist Botschafterin des Medienratgebers "Schau hin!" und hält von Jonathan Haidts Alarmismus nicht viel. "Es ist Quatsch zu sagen, die Kindheit heutzutage sei telefonbasiert", erklärt sie. "Vielmehr verändern sich gesellschaftliche und familiäre Strukturen. Natürlich macht es einen Unterschied, ob Kinder ein Buch in der Hand haben oder ein Smartphone, aber es nicht der eine prägende Faktor." Die Argumentation von Jonathan Haidt hält sie für populistisch. "Es ist eine zu einfache Lösung für ein komplexes Problem."

Die digitalen Medien zu verteufeln, sei nicht der richtige Weg – genauso wenig, wie Eltern ein schlechtes Gewissen zu machen. Das Thema müsse vielmehr differenziert betrachtet werden: "Das Smartphone führt nicht zu Vereinsamung, sondern Kinder knüpfen darüber soziale Kontakte", sagt sie. "Das Handy kann eine große Erleichterung sein für Kinder, die beispielsweise queer sind und sich niemandem anvertrauen können. Online finden diese Kinder Kontakte zu anderen, die so sind wie sie und die ihnen helfen können."

Genauso seien Spiele auch nicht per se schlecht. "Minecraft ist beispielsweise ein kreatives Spiel." Die Gefahr bestehe vielmehr darin, dass Kinder stundenlang davor geparkt werden. "Im Restaurant sitzen lauter Zweijährige vorm Tablet. Kinder werden damit ins Bett gebracht. Ihnen wird nicht mehr beigebracht, auf andere Weise Dopamin zu erzeugen, also befriedigende Erlebnisse zu erzeugen, wie zum Beispiel durchs Malen", so Nicola Schmidt. 

Die Balance zwischen online und offline zählt

Wie so oft gilt auch bei digitalen Medien: Die Dosis macht das Gift. "Wenn das Kind sechs Stunden im Wald war und abends eine halbe Stunde 'Paw Patrol' guckt, ist alles in Ordnung. Die Balance macht es aus."

Ungesund wird es dann, wenn Kinder ihre Frusterlebnisse dadurch verarbeiten, dass sie Videos gucken oder durch Social-Media-Apps scrollen. "Drücken Eltern ihrem Kind das Smartphone in die Hand, um es zu beruhigen, wenn es wütend oder frustriert ist, werden Smartphones zum Rettungsanker." Kinder lernen auf diese Weise nicht, ihre Gefühle aus eigener Kraft heraus zu regulieren – und das hat Auswirkungen auf das gesamte Leben.

Dass Kinder psychische Probleme bekommen, liegt laut Jonathan Haidt jedoch nicht an den digitalen Medien allein, sondern auch an der Überbehütung durch die Eltern. "Moderne Eltern behüten ihre Kinder zu stark in der Offline-Welt und beschützen sie zu wenig online", schreibt er. Jeder kennt das Klischee von den SUVs, die morgens kurz vor Schulbeginn die gesamte Straße zuparken, weil Eltern ihre Kinder den Schulweg nicht mehr allein bestreiten lassen. Eine Gefahr, die auch Nicola Schmidt sieht. "Sie werden an den falschen Stellen überreguliert. Das tut Kindern nicht gut." Das Paradoxe: Gerade in den Bereichen, in denen sie mehr Freiheit bräuchten – wie allein zur Schule gehen – werden Kinder oft überbehütet. In anderen Situationen, in denen sie elterliche Unterstützung brauchen, seien sie oft auf sich allein gestellt – zum Beispiel bei den Hausaufgaben, beim Schlafen oder eben bei der Mediennutzung. Laut Jonathan Haidt führt dies dazu, dass Kinder immer mehr Zeit mit digitalen Medien verbringen und weniger Erfahrungen in der realen Welt machen. 

Mediennutzung gut begleiten

In seinem Buch bietet er klare Lösungsansätze. Er fordert: Kein Smartphone vor dem 14. Lebensjahr, keine Social-Media-Apps vor 16, ein striktes Smartphone-Verbot an Schulen. Doch ist das realistisch? Nicola Schmidt bezweifelt es. "Es ist wie ein Schönheitsideal, das man nicht erreichen kann", erklärt sie. Dafür seien Eltern an vielen Stellen zu sehr auf sich allein gestellt. "Wir bräuchten eine funktionierende Kinderbetreuung, eine bessere Betreuung vor und nach der Schule, mehr kinderfreundliche Räume, mehr Jugendclubs." Letztlich komme es darauf an, wie ressourcenstark eine Familie sei. Gibt es die finanziellen Mittel, um Hobbys zu ermöglichen? Haben die Eltern die Möglichkeit, am Nachmittag Zeit mit ihren Kindern zu verbringen? Von all diesen Faktoren hänge es ab, inwiefern Eltern die Smartphone-Nutzung ihrer Kinder reduzieren können.

Doch was ist dann der geeignete Weg, um Kinder und Jugendliche beim Umgang mit digitalen Medien zu begleiten? Nicola Schmidt setzt auf verstehen statt verbieten. "Eltern müssen mit Kindern besprechen, was an Social Media problematisch ist." Außerdem helfen feste Absprechen, wie lange bestimmte Medien genutzt werden dürfen. Wichtig ist auch, dass Eltern alternative Beschäftigungen anbieten. Statt starre Zeitlimits zu setzen, sei es sinnvoller, gemeinsam die Bildschirmzeit im Auge zu behalten und mit dem Kind zusammen zu überlegen, was die Mediennutzung mit ihm macht. "Warum fühle ich mich schlecht, wenn ich eine Stunde bei Instagram war? Kinder müssen wissen, was in ihrem Gehirn passiert."

Dass die kommende Generation achtsamer im Hinblick auf die Mediennutzung sein wird, hält sie für wahrscheinlich. "Die aktuelle Elterngeneration hat selber mitbekommen, was das Smartphone mit ihnen macht. Sie haben die Erfahrung und können damit umgehen."

Ihr Rat an alle Eltern: "Lasst euch nicht verrückt machen und seid immer vorsichtig, wenn jemand eine einfache Lösung für ein komplexes Problem hat." Sie weiß: "Die meisten Eltern machen ihren Job sehr gut."