Kinderstreit richtig lösen

"Bringt Kindern bei, eigene Lösungen zu entwickeln und sie brauchen keinen Schiedsrichter mehr"

Nicola Schmidt, Expertin für bedürfnisorientierte Erziehung, widmet sich in ihren neuen Büchern einem allgegenwärtigen Elternthema: Konflikte unter Kindern. Im Gespräch erläutert sie, wie Eltern ihre Kinder dabei unterstützen können, Streit konstruktiv zu lösen.

Zwei Kinder streiten beim Backen und bewerfen sich mit Mehl.© iStock/PeopleImages
Konflikte lösen will gelernt sein ...

Egal ob Zoff auf dem Spielplatz und unter Geschwistern – Konflikte unter Kindern sind für alle Eltern ein Dauerthema.

Mit ihren beiden neuen Büchern "Streit! Und nun?" und "Ich zuerst! Nein, ich!" (s. Buch-Tipps unten) präsentiert Nicola Schmidt nun Wegweiser für Eltern und Kinder und bietet praktische Lösungen, wenn es mal wieder knallt.

Dabei geht sie auf die Bedürfnisse der verschiedenen Altersgruppen ein und erklärt, welche Unterstützung sowohl Kleinkinder als auch größere Kinder ab drei Jahren brauchen.

Im Interview verrät sie, warum Eltern auch Streit um vermeintlich Unwichtiges ernst nehmen sollten, welche zwei Fehler Eltern dabei immer wieder machen und wie Kinder lernen, ihre Konflikte allein zu lösen.

Was hat Sie dazu bewogen, sich dem Thema Konflikte im Kinderalltag gleich in doppelter Form zu widmen?

Nicola Schmidt: Es ist das dominante Thema, sobald die Kinder aus dem Gröbsten heraus sind - und es fordert uns Eltern ganz schön! Ich wollte Eltern und Kindern dabei helfen, diese anstrengende Phase gut durchzustehen. Es gibt nämlich viele kleine Kniffe, wie wir es uns einfacher machen können.

Warum ist es für Kinder so wichtig, Konflikte lösen zu lernen?

Wenn wir in die Geschichte der Menschheit schauen, dann sehen wir, dass wir – anders als andere Primaten – eigentlich miteinander kooperieren wollen. Wir sind Gruppenwesen, wir brauchen einander. Das ist die Grundlage unseres evolutionären Erfolges. Kinder wollen also eigentlich etwas miteinander machen, aber dafür müssen sie lernen, wie sie Konflikte lösen – erst dann wird gemeinsames Spiel, erst dann werden gemeinsame Pläne möglich. Konflikte gut lösen zu können ist also eine fundamentale Fähigkeit, die uns zum Menschen macht.

"Ich zuerst! Nein, ich!" richtet sich an Eltern von Kindern ab 2 Jahren. Was sind in dieser Altersgruppe die größten Streitthemen? 

Kinder im Alter von zwei Jahren spielen noch sehr viel parallel und nur sehr kurze Episoden miteinander. Bei ihnen geht es vor allem um Streit um Spielzeug, um zuerst dran sein, um den letzten Keks. 

Bei den Kleinen helfen wir vor allem zu verstehen: "Es ist genug für alle da. Es fühlt sich an, als würde die Welt untergehen, wenn du nicht den blauen Becher bekommst, aber schau, hinterher ist alles noch da und ich bin bei dir."

Und bei den älteren Kindern wird es komplexer … 

Bei Kindern ab drei Jahren auf dem Spielplatz sind die Themen komplexer: Wer bekommt welche Rolle im Rollenspiel, wer entscheidet oder was machen wir zuerst. Bei den Großen geht es schon eher um kreative Lösungsfindung. Wir als Eltern geben die Lösungen nicht vor, wir helfen den Kindern, Ideen zu entwickeln. Es geht nämlich genau nicht darum, demokratisch irgendetwas zu entscheiden. Denn das lässt in der Regel ein Kind frustriert zurück. Wir wollen eine Lösung finden, die auch dann noch trägt, wenn wir den Kindern den Rücken zukehren.

Finden Sie, dass Erwachsene sich zu oft in kindliche Konflikte einmischen?

Wie sollen wir uns bei Konflikten verhalten? Ich habe als Mutter dazu immer nur zwei Varianten gehört, entweder "Du musst entscheiden" oder "Lass die Kinder mal machen". Beides ist falsch. Wir brauchen als Eltern Lösungen, die wirklich funktionieren, die uns den Alltag leichter machen. Und da sagt die Forschung ganz klar: Bringt den Kindern bei, eigene Lösungen zu entwickeln und schon bald brauchen sie keinen Schiedsrichter mehr. Und wie das geht, erzähle ich in den beiden Büchern.

Wie können Eltern Kindern beibringen, auch mal nachzugeben, ohne dass sich ein Kind unfair behandelt fühlt oder das Gefühl hat, immer zurückstecken zu müssen?

Es muss Regeln geben in der Familie: Das erstgeborene Kind bekommt zuerst sein Essen. Dieses Spielzeug gehört dir, dieses Spielzeug gehört deinem Geschwisterchen, dieses Spielzeug teilen wir. Ich darf mich nicht wundern, dass mein großes Kind sauer auf das Kleine ist, wenn es alle seine vermeintlich "alten" Spielsachen hergeben muss, ohne gefragt worden zu sein. Ich darf mich nicht wundern, wenn das Kleine das Große hinter meinem Rücken piesackt, wenn das Große immer den Ärger kriegt. Im Buch stehen konkrete Tipps, wie wir das im Alltag umsetzen können.

Warum ist es so wichtig, dass Eltern auch die kleinen Streitereien um die "vermeintlich unwichtige Dinge“ ernst nehmen?

Weil es für die Kinder ernst ist. Und nur wenn sie spüren, dass wir ihre kleinen Themen ernst nehmen, werden sie später auch mit ihren großen Themen zu uns kommen. Und wenn sie erst 14, 16 oder 21 sind, sprechen wir wirklich von sehr großen Themen.

Beide Bücher zeigen, wie Kinder zu kreativen Lösungen kommen können. Welche Beispiele gefallen Ihnen besonders gut?

Als mein Sohn das Buch "Ich zuerst! Nein, ich!" in der Hand hatte, schlug er die Seite auf, in der der große Bruder den blauen Becher bekommt und ihn dann doch der kleinen Schwester zurück gibt. Er sagte: "Ich erinnere mich noch genau an das Gefühl! Du hattest mir Recht gegeben und dann erst war ich bereit, auf sie einzugehen" – das ist ein schönes Beispiel, dass wir manchmal einfach nicht wissen, wie sich etwas entwickelt. In "Streit! Und nun?" liebe ich die Szene, in denen der Hirsch alle auf sein Geweih einlädt. Sowas kann man nicht verordnen, das muss von den Kindern kommen. Aber am liebsten mag ich die allerletzte Lösung im Buch – aber die verrate ich jetzt noch nicht!

Welchen abschließenden Rat möchten Sie Eltern geben, die sich im Alltag oft hilflos oder überfordert fühlen, wenn es um Konflikte ihrer Kinder geht? 

Wir dürfen erstmal weiteratmen. Wir müssen es nicht perfekt machen. Wir dürfen erstmal ruhig überlegen, was wir jetzt machen wollen. Uns fällt nichts ein? Macht nichts, wir können immer unsere Kinder fragen: "Was braucht ihr, damit wir friedlich weiter spielen können?" – meistens haben sie dann spannende Ideen, mit denen wir weiter kommen können. Und wenn es heute nicht klappt, versuchen wir es morgen noch einmal. Erziehung entscheidet sich nicht an einem Nachmittag am Spielplatz, Erziehung ist ein gemeinsamer Prozess.

Über Nicola Schmidt
Nicola Schmidt

Nicola Schmidt, geboren 1977 in München, ist Wissenschaftsjournalistin und Buchautorin mit Schwerpunkt auf Erziehungsthemen. Zu ihren bekanntesten Werken zählen "Artgerecht – das andere Baby-Buch" und "Erziehen ohne Schimpfen". Darüber hinaus gründete sie das "artgerecht-Projekt", das Eltern bei einer bedürfnisorientierten Erziehung unterstützt. Ihr neuestes Werk umfasst die Kinderbücher "Streit! Und nun?" und "Ich zuerst! Nein, ich!", in denen sie sich mit der Konfliktbewältigung bei Kindern befasst.

Foto: Emmanuel Avargues Diptica